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Ukraine: Selenskyj kündigt Entlassungswelle und Neuanfang an

«Ein Neustart ist notwendig» – Selenskyj kündigt Entlassungswelle an

Präsident Selenskyj verschärft den Machtkampf mit der militärischen Führung und kündigte eine Entlassungswelle an. Der Schritt birgt für ihn Risiken.
05.02.2024, 05:40
Christoph Cöln / t-online
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epa11126083 A handout photo made available by the Ukrainian Presidential Press Service shows Ukraine's President Volodymyr Zelensky (C) during a visit to frontline positions near Robotyne village ...
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (M.) in der Region Saporischschja.Bild: keystone

Wolodymyr Selenskyj will laut eigenen Aussagen die politische und militärische Führungsstruktur des Landes umbauen. Das sagte der ukrainische Präsident in einem Interview mit dem italienischen TV-Sender RAI. «Ein Neustart ist notwendig», so Selenskyj. «Ich denke über diesen Austausch nach. Es ist eine Frage für die gesamte Führung des Landes.»

Wen dieser personelle Neuanfang vor allem treffen könnte, zeichnet sich seit Tagen ab: den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj. Von einer «Fehde» zwischen den beiden Männern ist zu lesen. Offenbar ist Saluschnyj beim Präsidenten in Ungnade gefallen, nachdem der Militär zuletzt in Interviews und Essays mehrfach auf die schwierige Lage der ukrainischen Truppen bei der Verteidigung gegen den russischen Aggressor hingewiesen hatte.

Selenskyj erklärte am Sonntag gegenüber RAI, dass nun Einigkeit und Zuversicht notwendig seien. «Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir alle am selben Strang ziehen», sagte der Präsident. Offenbar sieht er knapp zwei Jahre nach dem Beginn der russischen Invasion diese von ihm propagierte Zuversicht bei Saluschnyj nicht mehr als gegeben. «Wir dürfen nicht entmutigt sein, wir müssen die richtige und positive Energie haben. Negativität muss zu Hause bleiben. Wir können es uns nicht leisten, aufzugeben.»

Mögliche Nachfolger werden bereits gehandelt

Wie mehrere US-Medien berichteten, soll Selenksyj den Oberkommandierenden bereits in der vergangenen Woche in sein Büro gebeten und ihm die Entscheidung seiner bevorstehenden Entlassung mitgeteilt haben. Auch soll der Präsident Saluschnyj eine neue Rolle angeboten haben. Welche das sein könnte, wurde nicht bekannt. Saluschnyj soll jedoch abgelehnt haben. Als mögliche Nachfolger im Amt des Oberkommandierenden waren Heeres-Chef Olexander Syrskyj und Militärgeheimdienst-Chef Kyrylo Budanow genannt worden.

In this photo provided by the Ukrainian Presidential Press Office, Commander-in-Chief of Ukraine's Armed Forces Valeriy Zaluzhny, centre, attends an event for marking Statehood Day in Mykhailivsk ...
Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj (Mitte, Archivfoto.)Bild: keystone

Offenbar soll Selenskyj seine Entscheidung dem wichtigsten Verbündeten USA bereits mitgeteilt haben. Wie die Biden-Regierung auf den möglichen Plan einer Entlassung Salsuschnyjs reagierte, ist nicht bekannt.

In der Vergangenheit hatte es wiederholt Differenzen zwischen Selenskyj und Saluschnyj gegeben. Im November erklärte der General, der Krieg sei in eine Pattsituation getreten, und zog damit eine Rüge des Präsidenten auf sich. Zuvor hatte das ukrainische Militär mit einer Gegenoffensive nur begrenzte Erfolge gegen die Stellungen der russischen Armee an der rund 1'000 Kilometer langen Front erzielt. In einem jüngst veröffentlichten Beitrag für den US-Fernsehsender CNN kritisierte Saluschnyj unter anderem, dass man aufgrund des Widerstands in der Ukraine keine hinreichende Kampfkraft aufbauen könne.

Für Selenskyj könnte der Schritt riskant sein. Saluschnyj gilt als äusserst beliebt in der Ukraine – laut Meinungsumfragen ist er sogar beliebter als der Präsident selbst. Würde Saluschnyj für ein politisches Amt kandidieren, könnte er zur Bedrohung für den Präsidenten werden. Derartige Ambitionen hat Saluschnyj bislang jedoch stets von sich gewiesen.

«Davon wollen wir wegkommen»

Der 50-jährige General wird in dem Land als Held verehrt, wird ihm doch die erfolgreiche militärische Zurückschlagung der ersten Welle der russischen Invasion im Frühjahr 2022 und die Verteidigung der Hauptstadt Kiew zugeschrieben. Wie die «The Japan Times» von ukrainischen Soldaten erfahren haben will, könnte seine Entlassung in der Armee für Unmut sorgen. «Dann wird es einen Aufstand geben», zitiert die Zeitung einen Soldaten.

Saluschnyj gilt als unprätentiös und progressiv. Er ist der erste ukrainische Oberbefehlshaber, der nicht nach den Massstäben der sowjetischen Armee ausgebildet worden ist. Saluschnyj gilt zudem als taktisch versiert und an westlichen Militärstandards interessiert. Auch hat er in der ukrainischen Armee dafür gesorgt, dass die Befehlskette modernisiert wurde. So haben die Soldaten unter ihm mehr Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen erhalten.

«Diese neue Generation an Soldaten wird die Armee innerhalb von fünf Jahren komplett verändern», sagte Saluschnyj in einem Interview im Jahr 2020, das vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlicht wurde. «Fast jeder von ihnen spricht eine Fremdsprache, ist geübt darin, mit modernem Gerät umzugehen und ist belesen. Wir wollen davon wegkommen, Landkarten zu studieren und Schlachtpläne zu entwerfen, als ob wir im Jahr 1943 wären.»

Für diesen neuen Ansatz hat der General viel Lob, auch von den westlichen Verbündeten erhalten. Experten gehen davon aus, dass die USA und andere Nato-Alliierten einer Entlassung Saluschnyjs möglicherweise kritisch gegenüber stehen.

Der Leiter des Sonderstabes Ukraine im Bundesverteidigungsministerium, Generalmajor Christian Freuding, sagte auf das mutmassliche Zerwürfnis der beiden Männer angesprochen, dass solche Diskussionen auf Dauer den Verteidigungsanstrengungen der Ukraine nicht zuträglich seien. «Natürlich beobachten wir diese Diskussionen zwischen der militärischen und der politischen Führung. Und natürlich wünschen wir der Ukraine, dass sie die Einigkeit wahrt, die sie in den letzten Monaten und Jahren stark gemacht hat bei der Verteidigung ihres Landes», so der Generalmajor.

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83 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rodolofo
05.02.2024 06:57registriert Februar 2016
Das lässt sich leider immer wieder beobachten, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Stärken und Schwächen das Trennende deutlicher sehen, als das Ergänzende,
Ich denke, Selenski ist der grosse Motivator und Showman für die internationale Bühne, währenddem Saluschni der "Praktiker vor Ort" ist, der die äusserst schwierige Lage so sieht, wie sie ist.
So hervorragend Selenski in seiner Rolle als Präsident der Ukraine im Verlaufe der russischen Invasion über sich hinausgewachsen ist, jetzt muss er aufpassen, dass ihm dieser Erfolg nicht zu Kopfe steigt, und das zum Leidwesen der Ukraine...
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hgehjvkoohgfdthj
05.02.2024 06:45registriert März 2020
Saluschnyj zu entlassen, ist keine gute Idee. Er ist bei den Verbündeten und den eigenen Soldaten nicht umsonst so beliebt.
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Dong
05.02.2024 07:55registriert Oktober 2016
Selenskyj und Saluschnyj sprechen schon seit geraumer Zeit nicht mehr miteinander, der eine will Erfolge, der andere seine Soldaten nicht verheizen. Ich bin in der Sache klar auf der Seite Saluschnyjs, der auch schon Gegner der komplett sinnlosen Sommer-Offensive war. Leider (für die Ukraine) hat Victoria Nuland nun offenbar Selenskyj grünes Licht gegeben, nachdem die USA zuvor Saluschnyj noch gestützt hatten.
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