Herr Kretschmann, viele meinen, die deutsche Demokratie befinde sich in ihrer schwersten Krise seit Gründung der Bundesrepublik. Vor dem Hintergrund Ihrer langjährigen Erfahrung: Stimmt das?
Winfried Kretschmann: Die ganze Welt scheint von einer Art politischem Virus befallen zu sein. Das sehen wir überall in Europa, und in den USA ist Donald Trump zurück. In Ungarn und Italien sind die Rechtspopulisten sogar an der Macht. Deutschland ist kein Sonderfall.
Vielleicht besteht der Sonderfall ja darin, dass die Populisten in Deutschland von der Macht so weit entfernt sind wie kaum irgendwo sonst: Eine Regierungsbeteiligung der AfD ist undenkbar. Sollte man nicht besser ausprobieren, ob sie sich an der Macht entzaubern würde?
Von dieser Entzauberungsthese halte ich nichts. In Ungarn haben sich diese Kräfte nicht entzaubert, sondern festgesetzt. In Polen wurden sie zwar wieder abgewählt, aber die Verhältnisse dort sind noch immer fragil. Wenn Populisten an der Macht sind, stellen sie die Gewaltenteilung infrage. Entzaubert wurden sie eher dort, wo sie nicht an die Macht kamen, etwa in Grossbritannien, wo die Wähler nun merken, dass der Brexit nicht das gebracht hat, was sie erwartet haben, nämlich Souveränität. Wir brauchen ein starkes Europa, denn verglichen mit China und den USA ist jeder europäische Staat für sich allein zu klein.
In der Schweiz gehört die SVP seit Jahrzehnten der Regierung an. Ist die Schweiz ein Sonderfall, wenn es um die Einbindung rechter Parteien geht?
Die Schweiz als Konkordanzdemokratie mit direkter Demokratie ist ein Sonderfall. Wenn am Schluss das Volk entscheidet, muss man mit der Polarisierung vorsichtig sein. Ich würde die SVP auch nicht mit der AfD auf eine Stufe stellen.
Zurück zur AfD: Wie wollen Sie ihr beikommen?
Es gibt kein Patentrezept. Natürlich spielen ihr die grossen Krisen in die Hand. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine mussten wir die Gasversorgung völlig neu aufstellen, erst einmal mit deutlich höheren Kosten. China hat sich von einem Abnehmer unserer Produkte zu einem Konkurrenten entwickelt. Und das transatlantische Verhältnis steht mit Trump unter grossem Druck. Hinzu kommen der Klimawandel und seine Folgen. Und wir haben demografische Probleme. All diese Fragen führen zu Unsicherheit, und da rennen die Leute oft denen hinterher, die einfache Lösungen anbieten. Unsere Aufgabe ist es, die besseren Lösungen anzubieten. Hinzu kommt, dass Demagogen mit den sozialen Medien Instrumente in der Hand haben, die es so noch nie gab. Man kann das nur mit der Erfindung des Buchdrucks in der frühen Neuzeit vergleichen.
Ohne eine strengere Migrationspolitik wird die AfD kaum zu schwächen sein.
Die machen wir bereits. Denn es gilt, dass nicht jeder, der kommt, auch bleiben kann. Andererseits brauchen wir dringend Fachkräfte für unseren Arbeitsmarkt. Dazu wurde einiges auf den Weg gebracht. 2024 sind deutlich weniger Geflüchtete gekommen. Wir brauchen jetzt die Umsetzung der gemeinsamen Asylpolitik der EU, neue Migrationsabkommen – und den schnelleren Zugang von Fachkräften zu unserem Arbeitsmarkt.
Ende Februar wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Ihre Partei steht in den Umfragen ordentlich da. Aber dass sich Ihr Parteikollege Robert Habeck Kanzlerkandidat nennt, wirkt etwas vermessen. Die Grünen liegen zwischen 12 und 15 Prozent.
Wenn Habeck sich Kanzlerkandidat nennt, ist das nicht vermessener, als wenn der amtierende Kanzler dies tut. In den aktuellen Umfragen ist Habeck deutlich beliebter als Olaf Scholz, teilweise liegt er sogar vor Friedrich Merz.
Trotzdem treten die Grünen auf der Stelle, was die Wähleranteile angeht. Davon, dass sie zur Volkspartei werden könnten, redet niemand mehr.
Sicher, wir haben schwere Einbrüche erlebt. Auch hier in Baden-Württemberg, wo ich bei der letzten Landtagswahl noch über 30 Prozent erreicht habe. Natürlich hängt das auch mit der «Ampel» zusammen. Wenn man sich andauernd öffentlich bekriegt, nehmen die Leute gar nicht mehr wahr, was man alles zustande gebracht hat. Dass Habeck uns durch eine schwere Energiekrise gelotst hat, dass die Lichter nicht ausgegangen und die Wohnungen nicht kalt geworden sind, ist in Vergessenheit geraten. Dabei war das eine enorme Leistung von ihm.
Allerdings hat Deutschland in dieser Krise seine letzten drei Kernkraftwerke abgeschaltet. Ein Fehler?
Zunächst einmal sind wir in den Streckbetrieb gegangen: Wir haben die Kraftwerke länger laufen lassen als geplant.
Aber nur für einige Monate.
Ich hätte mir durchaus vorstellen können, sie noch so lange laufen zu lassen, wie es sicherheitstechnisch vertretbar gewesen wäre. Aber die Bundesregierung hat nun einmal anders entschieden.
Jüngst sorgte Habeck mit einem Vorschlag für Aufregung, Sozialabgaben auf Kapitalgewinne zu erheben, um das Gesundheitswesen zu finanzieren. In einem Sparerland wie Baden-Württemberg muss eine solche Idee doch Unmut auslösen.
Unser Gesundheitswesen ist unterfinanziert. Es gilt immer: Wer einen Vorschlag ablehnt, muss Gegenvorschläge machen. Wir in Baden-Württemberg haben unsere Hausaufgaben gemacht, indem wir die Krankenhauslandschaft bereinigt und so die Kosten gesenkt haben.
Die deutsche Industrie befindet sich in einer Krise, manche reden von Deindustrialisierung. Wird Baden-Württemberg das neue Ruhrgebiet?
Von Deindustrialisierung kann keine Rede sein. Das ist doch haltloses Gerede.
Aber es gehen Arbeitsplätze in der Industrie verloren.
Unsere Industrie ist unter Druck. Einer der Hauptgründe sind die Chinesen, die uns mittlerweile auf Augenhöhe angreifen. Man sieht das bei den Autos: Die haben den Verbrenner übersprungen und sich voll auf Elektromobilität konzentriert. Ihre Produkte sind preiswerter. Umgekehrt ist der chinesische Markt für Luxusautos, wie etwa Porsche sie herstellt, zusammengebrochen. Aber unsere Unternehmen nehmen den Kampf auf, und sie werden ihn nicht verlieren.
Wenn wir auf die Autoindustrie schauen: Liegen die Fehler vor allem bei den Firmen oder auch bei der Politik?
Fehlerdebatten lösen keine Probleme. Wenn Fehler gemacht worden sind, sind sie gemacht worden. Wir müssen schauen, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Das Wichtigste ist, dass die Regulierungswut aufhört. Wir brauchen eine massive Entbürokratisierung. Mit marktwirtschaftlichen Instrumenten wie der CO2-Bepreisung müssen wir die Klimapolitik vereinfachen und mit dem weiteren Ausbau der Erneuerbaren, der Netze und Speichertechnologien die Energiepreise runterbekommen. Und wir müssen eine Steuerpolitik machen, die Investitionen belohnt. Mit all dem hat die «Ampel» ja begonnen.
Manche sehen die Grünen als Verbotspartei, die zur Regulierungswut beiträgt.
Die Grünen haben in der Geschichte der Bundesrepublik im Bund gerade einmal zehn Jahre regiert. Sie sind sicher nicht ursächlich für all die Bürokratie. Aber der Klimawandel ist nun einmal eine Realität, die man nicht wegbeten kann. Wir haben mehrere Instrumente: Wir können fördern, aber dafür braucht man genügend Mittel. Man kann mit marktwirtschaftlichen Instrumenten arbeiten oder ordnungspolitisch, mit Geboten und Verboten. Wann man welches Instrument wie anwendet, ist die politische Kunst. Beim Heizungsgesetz ist das nicht gelungen. Aber in Baden-Württemberg haben wir ein Gebot, das Solaranlagen auf allen Neubauten vorschreibt. Anfangs gab es ein leises Grummeln, jetzt haben wir einen Solar-Boom.
Nach der Bundestagswahl könnte es auf eine schwarz-grüne Koalition unter Friedrich Merz hinauslaufen. Als konservativer Grüner müsste Sie das freuen.
Jedenfalls ist es so, dass wir in drei Bundesländern mit der CDU regieren: Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Das läuft ordentlich und geräuschlos. Gestritten wird hinter den Kulissen, und dann werden Lösungen präsentiert. Dass wir erfolgreich regieren, bestreitet nicht einmal die CSU.
Deren Chef Markus Söder schliesst eine Koalition mit den Grünen aber aus. Muss man das ernst nehmen?
Man muss Söder schon ernst nehmen, aber man muss auch sehen, warum er sich so verhält: Er hat Angst, dass er Stimmen an Hubert Aiwangers Freie Wähler verliert, wenn er zu offen gegenüber den Grünen ist. Sein Verhalten ist wahlkampfgetrieben.
Wie würden Sie Ihre Stellung innerhalb Ihrer Partei beschreiben? Hört man auf Sie oder sind Sie eher ein Aussenseiter?
Ein Aussenseiter? Das höre ich immer wieder. Ich habe die Grünen mitgegründet und bin der einzige grüne Ministerpräsident. Ich bin jedes Mal als Spitzenkandidat aufgestellt worden und habe immer gute Ergebnisse gemacht. Da kann ich doch kein Aussenseiter sein. Aussenseiter sind solche wie die mittlerweile ausgetretenen linksradikalen Vorstandsmitglieder der Grünen Jugend, die einfach in der falschen Partei waren.
Meine Frage zielte nicht auf Ihre Stellung in Baden-Württemberg, sondern in der Gesamtpartei. Junge Grüne dürften mit manchen Ihrer Positionen wenig anfangen können.
Ich bin nun einmal Ministerpräsident aller Baden-Württemberger, da kann ich nicht nur Parteipolitik machen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich ein Aussenseiter wäre, sondern mit einer verantwortungsvollen Wahrnehmung meiner Rolle.
Kurz vor Weihnachten haben sich die Schweiz und die EU auf ein neues Vertragspaket geeinigt. Sie waren immer wieder in Brüssel und haben auf eine Einigung gedrängt. Warum hat es so lange gedauert?
Das kann ich nicht sagen, ich habe die Verhandlungen ja nicht geführt. Einer der Gründe, warum genau sich die EU mitunter unflexibel gezeigt hat, war sicher der Brexit: In dieser Situation wollte man der Schweiz keine allzu grossen Zugeständnisse machen. In der letzten Verhandlungsphase ging es dann relativ schnell. Ich war in dieser Zeit häufig in Brüssel. Mit der Zeit haben mich einige EU-Kommissare auf die Schweiz angesprochen, weil sie meinten, ich sei demnächst ohnehin wieder in Bern. In Brüssel sowie bei meinen Besuchen in der Schweiz habe ich mich immer wieder für engere Beziehungen und ein besseres gegenseitiges Verständnis eingesetzt.
Dass die Schweiz beim Forschungsprogramm Horizon dabei ist, war Ihnen besonders wichtig.
Ja, weil die EU auf hervorragende Forschungsinstitutionen wie die ETH Zürich nicht verzichten kann. Ich bedaure, dass die Schweiz nicht zur EU gehören will, auch wenn sie mit ihrer Mehrsprachigkeit und ihrer föderalen Ordnung als Blaupause für Europa dienen könnte. Nun müssen wir alles dafür tun, dass das Vertragspaket umgesetzt wird.
Der Zugang süddeutscher Firmen und Handwerker zum Schweizer Markt war lange umstritten. Linke Politiker in der Schweiz warnten vor Lohndumping. Können Sie diese Ängste verstehen?
Der Schutz der Schweizer Mindestlöhne ist verständlich. Lohndumping ist bei uns aber kein Problem, sondern die Bürokratie, die bei den Mindestlohnkontrollen entsteht. Zudem hat sich die Schweiz in den Verhandlungen ja mehrere Ausnahmen und Sicherheitsklauseln gesichert.
Bürgerliche Politiker in der Schweiz befürchten, das Abkommen könnte zu mehr Bürokratie führen. Sie selbst haben die Regulierungswut in Deutschland angesprochen. Wie wollen Sie den Schweizern die Angst davor nehmen?
Die Regulierungswut beschwert auch uns selbst. Sie können darauf vertrauen, dass wir den Kampf gegen die Überbürokratisierung aufnehmen. Und dabei werden wir erfolgreich sein, denn Wettbewerbsfähigkeit steht auf der Agenda der EU weit oben.
Das Abkommen muss nun ein Referendum überstehen. Wie würden Sie die Schweizer überzeugen? Viele meinen, im Vergleich mit der EU gehe es ihnen noch gut. Warum sollten sie etwas ändern wollen?
In ihrem eigenen Interesse. Die EU ist einer der wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Auch die Schweiz wird wirtschaftlich von China angegriffen. Wir können uns nur gemeinsam behaupten, allein ist jedes Land zu klein. Bei einer Diskussion in Basel oder Zürich habe ich einmal scherzhaft gesagt, das Auenland werde nicht allein von Hobbits verteidigt. Ich glaube, das Publikum hat verstanden, was ich meinte.
Sie haben Deutschlands demografisches Problem angesprochen. Ärgert es Sie, dass gut ausgebildete Fachkräfte in die Schweiz ziehen?
Dass die Schweiz mehr Ärzte und Pflegepersonal ausbilden sollte, sage ich unseren Schweizer Freunden immer wieder. Die Arbeitsbedingungen in Schweizer Krankenhäusern sind oft besser, da müssen wir uns nicht wundern, dass die Leute dorthin gehen. Aber wir haben keinen Grund, zu jammern: Umgekehrt geben Schweizer Konsumenten bei uns über zwei Milliarden Euro pro Jahr aus. Und wir profitieren davon, dass Schweizer Firmen sehr viel bei uns investieren.
Nächstes Jahr geht Ihre Amtszeit zu Ende, sie wird dann 15 Jahre gedauert haben. Was wird in Baden-Württemberg vom ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands bleiben?
Dass ich 2011 Ministerpräsident geworden bin, hatte viel mit äusseren Ereignissen zu tun. Fukushima ist in die Luft geflogen, hinzu kam der Konflikt um den Bahnhofsneubau Stuttgart 21, der das Land polarisiert hat. In dieser Situation habe ich eine Politik des Gehörtwerdens eingeführt. Durch neue Formate der Bürgerbeteiligung haben wir die repräsentative Demokratie neu belebt. Das war der wichtigste Grund für meinen Erfolg, und ich glaube, das wird auch bleiben. (aargauerzeitung.ch)
Von Kretschmann können auch Schweizer Politiker noch etwas lernen. Danke