«Am ersten Tag lebten sie noch» – zwei Geschichten aus dem Erdbebengebiet
Meryem hat überlebt. In ihr Tagebuch schreibt sie: «Ich erlebte das Erdbeben in der Türkei am 6. Februar. Ich möchte davon erzählen.» Während Meryem ihre ersten Tagebucheinträge verfasst, reisen zwei Zürcher in die Türkei, wo sie plötzlich zur einzigen Hoffnung für hunderte Menschen werden.
Sowohl Meryem als auch die Ersthelfer erzählen von der gleichen Katastrophe – aus verschiedenen Perspektiven. Eine Montage:
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Wir konnten unsere Wohnung erst verlassen, als das Beben zu Ende war. Draussen hat es in Strömen geregnet. Ich habe in meinem bisherigen Leben noch nie solch ein Regen gesehen.»*
Während Meryem im Regen steht, wachen E.K. und S.A. in Zürich auf. Sie sind ein Pärchen, beide um die 30 und mit Wurzeln in der Türkei. Als sie hören, was sich in denjenigen Dörfern abgespielt hat, wo Tanten und Cousins wohnen, ist für sie sofort klar: Anstatt in die Ferien nach Mexiko zu fliegen, wollen sie zu ihren Verwandten, um zu helfen, wo immer Hilfe nötig sein sollte. «Ich hatte Panik, wir konnten am Anfang viele von der Familie nicht erreichen. Leben sie? Leben sie nicht? Stecken sie in Trümmern fest?»
Innert kürzester Zeit sammeln sie hierzulande Hilfsgüter und Geld. Nicht einmal 4 Tage nach den ersten Erschütterungen landen sie in der türkischen Metropole Izmir. Von dort geht es mit einem Pickup 1200 Kilometer Richtung Osten – in die Stadt Pazarcık, ins Herz der Erdbebenkatastrophe. Was sie dort erleben werden, ist aufwühlend und zeugt von der massiven Überforderung der Regierung im Umgang mit der Jahrhundertkatastrophe. «Aus der Story, dass wir unseren Familien helfen wollen, wurde die Story, dass wir plötzlich der ganzen Provinz helfen mussten.»
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Darum gingen wir zu Fuss. Überall aus den eingestürzten Gebäuden hörte man Stimmen, die nach Hilfe riefen.
Wir befanden uns in einer beängstigenden, dystopischen Welt. Und es gab niemanden, der helfen konnte. Wir konnten nicht einmal die Notrufnummern erreichen.»
Auch die beiden Helfer sind mit dieser dystopischen Welt, in der Meryem wandelt, konfrontiert. Sie erleben, wie in die Städte zwar Hilfe tröpfelt, doch bis in die umliegenden Dörfer kommt nichts – weder Hilfsgüter noch Maschinen, um die Verschütteten auszugraben. Die einzige Hoffnung für die Menschen in der Agglomeration sind ihre Angehörigen im Ausland: Sie entsenden dringend benötigte Güter und helfende Hände. «Obwohl wir aus einem anderen Land kommen, waren wir schneller vor Ort als die türkische Naturkatastrophenbehörde AFAD.»
Die beiden koordinieren sich sofort mit anderen Auslandkurden, die ebenfalls in ihre Heimatdörfer gereist sind, um zu helfen. «Wir kannten diese Menschen nicht, aber gemeinsam waren wir eine Art Freiwilligen-Organisation.» Sie stampfen Verteilzentren aus dem Boden, organisieren Hilfsgüter im Ausland oder in weniger versehrten Städten und versuchen, die Erdbebenopfer so wenigstens mit Wasser, Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu versorgen. 10 Tage schuften die zwei vor Ort, fahren rund 6000 Kilometer, um möglichst viele Menschen zu erreichen.
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Sie kamen nie. Wer kam, waren Freiwillige. Am dritten Tag haben sie uns warmes Essen, Decken, Wasser, Konserven und Generatoren gebracht. Wir haben etwas gegessen, aber keiner von uns hatte Appetit.»
Neben Essen, Decken, Wasser, Konserven und Generatoren sowie besonders auch Zelten und sanitären Einrichtungen fehlt es an medizinischer Hilfe – und sogar dafür müssen die Freiwilligen sorgen. S.A. kontaktiert eine Freundin, die in Deutschland als Ärztin arbeitet und Türkin ist. Was die freiwilligen Ersthelfer jetzt erleben, ist absurd: Die Medizinerin reist an und kontaktiert sofort die türkische Ärztekammer, um sich einem Team anzuschliessen. Doch weder gibt es ein bestehendes medizinisches Team vor Ort, noch gibt es Personal, damit die Ärztin selbst ein Team aufbauen könnte. «Die Ärztekammer machte sie zur Verantwortlichen für die ganze Region Kahramanmaraş – als gäbe es dort keine Ärzte.»
Die deutsche Ärztin schlägt in einer bereits bestehende Zeltstadt ihr Lager auf, wo sie wenigstens Medikamente von der Regierung bekommt. Türkische Armeeangehörige weichen bis zu ihrer Abreise nicht mehr von ihrer Seite.
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Es war so kalt. Die meisten Menschen trugen nur Pyjamas, ohne Socken, ohne Schuhe.
Am nächsten Morgen waren die Leitungen immer noch unterbrochen. Es gab kein Strom, kein Wasser, nichts. Die Akkus unserer Handys waren nahezu aufgebraucht.»
Auch nach Tagen tragen die Menschen in den besonders kalten und abgelegenen Orten lediglich durchnässte Pyjamas – und in den Kisten und Säcken aus dem In- und Ausland befinden sich nicht annähernd genug Winterkleider, um sie alle auszustatten. Doch auch wenn es ausreichend Material gegeben hätte, die AFAD hat sich in den abgelegenen Dörfern ohnehin nicht blicken lassen. In ihrer Not beginnen die Überlebenden, Lastwagen zu stoppen, die eigentlich Hilfsgüter in die Städte hätten bringen sollen. Dabei liegen dort Kleidung und Güter bereits auf der Strasse, weil alles planlos in die Zentren gekarrt wurde und die Anlaufstellen längst überquollen.
Um die Menschen in diesen besonders kalten und abgelegenen Regionen vor dem Kältetod zu bewahren, schleppen die Ersthelfer aus Zürich an ihrem dritten Tag in der Türkei Generatoren in die gebirgigen Regionen, damit Heizpilze in Betrieb genommen werden können. Die Generatoren hat ein Cousin von S.A. in Istanbul organisieren können.
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Manche Familien haben begonnen, ohne Geräte, ohne Hilfe diejenigen herauszuholen, die sie erreichen konnten. Die meisten sind danach in ihren Armen verstorben.
Am dritten Tag haben die Freiwilligen die Leichen meiner Tante und meines Cousins geborgen. Am ersten Tag lebten sie noch.
Wir sind zum Friedhof gegangen und konnten unsere Toten nicht waschen. Es war nicht erlaubt.»
Auch die Helfer aus Zürich erleben das Gleiche wie Meryem. Inmitten ihres Einsatzes erfahren sie, dass man einen Cousin tot aus den Trümmern geborgen hat. Dabei hatte er noch mehrere Tage nach dem Erdbeben gelebt und hatte von unter den Trümmern mit der Familie telefoniert. «Um die Trümmer zu heben, hätte es aber schwere Maschinen gebraucht, die nicht bis in die Dörfer kamen.» Auch eine Tante verstarb.
Die Überlebenden müssen ihre Toten bergen und identifizieren. «Die Menschen leiden an einem kollektiven Trauma. Sie haben zu viele Leichen gesehen.» Allein der 25-jährige Cousin von S.A. hat 50 Freunde verloren – für die Grossmutter und die Tante musste er ein Grab schaufeln.
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Alles konnte man nur noch in bar bezahlen. Karten waren wertlos, weil es keinen Strom gab. Aber es gab auch keine Bankautomaten, an denen man hätte Geld abheben können.
Die Menschen haben begonnen, andere auszurauben. Und es gab keine Polizei, keine Gendarmerie.»
In manchen Regionen baut die Regierung Zeltstädte auf. Allerdings gleichen die Zelte eher Behausungen, denn es gibt keine Infrastruktur, keine sanitären Anlagen. Die Feldküche ist zu winzig für die tausenden Menschen, deren knurrende Mägen nach Essen verlangen. Auch die Verwandten von S.A. kommen in einer solchen Zeltstadt unter: «Meine Tante schämte sich, mir ihr Zelt zu zeigen. In so schlechten Zuständen war alles.» Alles riecht nach Dreck und Leichen. Nach wenigen Tagen gibt es die ersten Krankheitsfälle.
Die Helfer haben unterdessen Unterschlupf in einer Teppichfabrik eines Bekannten gefunden, wo sie auf dem Boden schlafen. Nach ein paar Nächten ziehen sie in eine ehemalige Privatschule um, die während des Baus durch Stahl verstärkt wurde. Diese Gebäude stehen in Gaziantep, einer Stadt 40 Minuten ausserhalb ihres Wirkungskreises, die vom Erdbeben nicht ganz so fest getroffen wurde. In Gaziantep herrscht kein Chaos – anders als in Kahramanmaraş, Hatay, Adıyaman und Malatya. Das Leben kam in Gaziantep nach wenigen Tagen wieder in die Gänge: Die Ersthelfer können dort tanken, Geld abheben und Hilfsgüter einkaufen.
Aus dem Tagebuch von Meryem:
Doch diese Menschen sind so schwer verletzt, dass sie kurz darauf sterben.»
Während in den Medien weltweit berichtet wird, wie auch nach fast einer Woche noch Lebende geborgen werden, werden die Schweizer Helfer an ihrem zehnten Tag vor Ort vom Militär überrumpelt. Dieses weist die Freiwilligen an, dass sie nur noch unter der Koordination der Regierung handeln dürfen. Die ausländischen Helfer werden als «Parallelregierung» beschimpft und müssen ihre Güter den aufgebauten Verteilzentren übergeben. Das kam nicht völlig überraschend, denn bereits zuvor wurden sie von maskierten Soldaten verfolgt. «Das war ein komisches Gefühl.» Die beiden Helfer aus Zürich reisen wieder nach Hause.
«Bis heute wurde in den Dörfern nichts mehr gemacht.» Doch das soll sich nun ändern: E.K. und S.A. sind zusammen mit Freunden gerade dabei, den Verein «Kindness is Good» aufzubauen. So wollen sie Überlebende in den besonders schwer zerstörten Regionen langfristig unterstützen, indem Spendengelder, die von allen Seiten an die Ersthelfer herangetragen werden, sinnvoll eingesetzt werden. Als Erstes soll es Kindern ermöglicht werden, in provisorischen Schulen und Tagesstätten eine Tagesstruktur zurückzuerlangen, das liegt dem Sozialpädagogen E.K. besonders am Herzen. Er sagt: «Wir dürfen nicht zulassen, dass wegen des Erdbebens eine verlorene Generation in der Türkei entsteht.»
4. März, 14 bis 20 Uhr: Kulturfabrik, Binzmühlenstrasse 405, 8046 Zürich
5. März, 14 bis 18 Uhr: Echo Pictures, Bachstrasse 9, 8038 Zürich
* Die Tagebucheinträge wurden von watson gekürzt.