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Syrien

Deshalb ist die Erdbebenhilfe in Syrien so schwer – in 4 Punkten

Die Katastrophe in der Katastrophe – deshalb ist die Erdbebenhilfe in Syrien so schwer

Die kriegsgeplagten Menschen im Norden Syriens wurden von Erdbeben heimgesucht. Eine NGO fordert darum, dass die Sanktionen gelockert werden, damit überhaupt humanitäre Hilfe geleistet werden könne. Doch so einfach ist es nicht, wie auch Ärzte ohne Grenzen gegenüber watson bestätigt.
14.02.2023, 19:2815.02.2023, 11:10
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In einer roten Weste sitzt Khaled Hboubati vom Syrischen Roten Halbmond* bei einer Medienkonferenz an einem Tisch und spricht eindringlich in das Meer aus Mikrofonen, das sich vor ihm auftürmt:

«Wir bitten Sie, lockern Sie die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien und das syrische Volk. Machen Sie so den Weg frei für uns.»

Das war am 7. Februar, einen Tag nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien. Wie sieht die Hilfe in Syrien eine Woche nach der Katastrophe aus? Und behindern die Sanktionen Hilfe tatsächlich?

Der gescheiterte Vielvölkerstaat

Die Sanktionen, von denen Hboubati spricht, sind eine Folge des Bürgerkriegs, der die Syrer seit 2011 geisselt. Und nun verhindern die Wirren des Krieges zusätzlich die akute Nothilfe für Erdbebenopfer.

Photo taken in Aleppo, Syria
Rebellen in Aleppo.Bild: getty

Der syrische Bürgerkrieg hat bereits vor dem Erdbeben eine riesige humanitäre Katastrophe ausgelöst. Laut Schätzungen der UNO wurden über 350'000 Zivilisten getötet, 6,5 Millionen sind auf der Flucht. Emmanuel Massart von der NGO Ärzte ohne Grenzen, die bereits seit zehn Jahren in Nordsyrien tätig ist, sagt auf Anfrage gegenüber watson:

«Seit 12 Jahren ist dort die Bevölkerung von einer anhaltenden humanitären Krise betroffen: Krieg, Fluchtbewegungen, COVID-19 und kürzlich kam ein Cholera-Ausbruch dazu.»

Und viele dieser Vertriebenen haben in den Gebieten Unterschlupf gesucht, die jetzt durch das Erdbeben dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Die Bürgerkriegsparteien im Erdbebengebiet

Im Zuge des Bürgerkrieges ist das moderne Staatsgebiet Syriens in Regionen zerfallen, die entweder von der Regierung des Präsidenten Baschal al-Assad und seinen ausländischen Bündnispartnern, den Volksverteidigungseinheiten der Kurden, von Rebellen oder von islamistischen Gruppierungen kontrolliert werden.

Diejenigen Gebiete, die vom Erdbeben betroffen sind, werden von mehreren Kriegsparteien kontrolliert – die am schwersten betroffenen Gebiete von der Opposition. Und das ist ein Problem für die akute Nothilfe, die nach den Erdbeben nötig ist.

Vom Erdbeben betroffene Gebiete und die in Syrien herrschenden Bürgerkriegsparteien

earthquake, syria civil war

Rot: Syrische Regierung
Grün: Islamistische Gruppierungen sowie syrische Rebellen
Gelb: Kurdische Streitkräfte
Rot: Syrische Regierung
Grün: Islamistische Gruppierungen sowie syrische Rebellen
Gelb: Kurdische Streitkräfte
Blaue Linie: Erdbebengebiet
Bild: watson/pre

Denn die anhaltende Unsicherheit und die Zugangsbegrenzungen schränkten die Möglichkeiten stark ein, humanitäre Hilfe zu leisten, so Massart. Aktuell sei die Bereitstellung von Hilfsgütern sowie die Versorgung und der Transport von Patienten in kritischem Zustand prioritär.

Benötigt werden nach den Erdbeben Nahrung, Wasser, Küchensets, Medikamente, Decken, provisorische Unterkünfte, aber auch Bagger. Massart betont, dass die Folgen des Erdbebens «ein hohes Mass an lokaler und internationaler Unterstützung» forderten.

IDLIB, SYRIA - FEBRUARY 13: Earthquake survivors live in tent after amusement park turns into a shelter for earthquake victims in Idlib, Syria on February 13, 2023. Families which their houses damaged ...
Ein Kind in einem Zelt, das für Menschen aufgebaut wurde, die beim Erdbeben ihr Zuhause verloren haben, Idlib, 13. Februar. Idlib wird von Islamisten kontrolliert. Bild: Anadolu
IDLIB, SYRIA - FEBRUARY 13: Children sleep as earthquake survivors live in tent after amusement park turns into a shelter for earthquake victims in Idlib, Syria on February 13, 2023. Families which th ...
Kinder schlafen in einem Zelt, das für Menschen aufgebaut wurde, die beim Erdbeben ihr Zuhause verloren haben, Idlib, 13. Februar. Idlib wird von Islamisten kontrolliert.Bild: Anadolu

Die Katastrophe in der Katastrophe

Bis anhin forderte Assad Staaten und Organisationen auf, Hilfe nur über Damaskus nach Syrien zu schicken. Von dort aus würden die Güter in zentralistischer Manier verteilt. Dieses Vorgehen soll in den Augen des Regimes unterstreichen, dass die Souveränität Syriens von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wird.

In der Praxis aber wird Hilfe für den Nordwesten seit Jahren von der benachbarten Türkei aus über eine Grenze bei Bab El Hawa eingeschleust, doch dieses Verfahren erfordert alle sechs Monate die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Und im UN-Sicherheitsrat hat Russland – das mit Damaskus verbandelt ist – ein Veto. Der Sicherheitsrat debattiert gerade, weitere Grenzübergänge zu öffnen, damit akute Nothilfe nach den Erdbeben zu den Betroffenen gelangen kann.

FILE - Women stand amidst the rubble of destroyed houses with placards in Arabic reading "United Nations are the partners of Bashar Assad and killing Syrians," in Atareb, Syria, Sunday, Feb. ...
Männer und Frauen stehen in den Trümmern ihrer Häuser in Atareb, das von Islamisten kontrolliert wird. Sie kritisieren mit ihren Plakaten die UNO.Bild: keystone

Massart bestätigt diese Zustände gegenüber watson. Er erklärt, dass der Transport von Hilfsgütern und Medikamenten aus der Türkei nach Syrien während der letzten zehn Jahre immer eine Herausforderung gewesen sei. «Der einzige Grenzübergang für humanitäre Konvois nach Nordwestsyrien war bereits vor der Katastrophe Gegenstand von politischen Spannungen.» Zudem hatten die humanitären Teams nie Zugang zu allen Menschen:

«Zu den Gebieten, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, wurde uns der Zugang bislang nicht gestattet.»

Aufgrund der Erdbebenkatastrophe habe Ärzte ohne Grenzen der syrischen Regierung ein formelles Unterstützungsangebot unterbreitet – und noch keine Antwort erhalten. Darum könne die Organisation derzeit nur dort Hilfe leisten, wo sie bereits seit Jahren präsent ist. «Wir mussten den Zugang zur Region für unsere medizinischen Aktivitäten nicht verhandeln», so Massart.

Ayesha, who lost her home in the devastating earthquake, carries her granddaughter in Atareb, Syria, Sunday, Feb. 12, 2023. After the earthquake, the 43-year-old has had no access to water, electricit ...
Ayescha und ihre Enkelin in Atareb. Sie haben im Erdbeben fast alles verloren. Das Einzige, das sie noch haben, ist einander. Atareb wird von Islamisten kontrolliert. Bild: keystone
Families who lost their homes in a devastating earthquake in Syria sit inside a tent that an NGO set up to provide them shelter and food in the town of Harem near the Turkish border, Idlib province, S ...
Familien, die durch die Erdbeben obdachlos wurden, sitzen in einem Zelt einer NGO in der Stadt Harem, die von der islamistischen Syrischen Heilsregierung (SSG) gehalten wird. Bild: keystone

Die wenigen Versuche, humanitäre Hilfe nach den Erdbeben über die internen Frontlinien in die Erdbebengebiete zu liefern, waren bis jetzt ein äusserst gefährliches Unterfangen, wie Reuters schreibt. So wurde ein Konvoi aus dem kurdisch gehaltenen Nordosten, der in den Nordwesten hätte fahren sollen – in ein Gebiet, das von Rebellengruppen gehalten wird, die von der Türkei unterstützt werden –, in mehrere Kämpfe verwickelt. Alle Seiten beschuldigten sich danach gegenseitig, Hilfe zu politisieren.

Ein UN-Sprecher meldete am Sonntag, dass Hilfe beim Überqueren von Frontlinien durch «Genehmigungsprobleme» aufgehalten werde.

People walk past collapsed buildings following a devastating earthquake in the town of Jinderis, Aleppo province, Syria, Thursday, Feb. 9, 2023. The quake that razed thousands of buildings was one of  ...
Aleppo nach dem Erdbeben. Aleppo wird von Assad und der syrischen Armee gehalten. Bild: keystone

Das Team von Ärzte ohne Grenzen in Nordsyrien besteht aus rund 500 Mitarbeitenden. Es unterstützt dort Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Kliniken in Vertriebenenlagern. Zudem stellt die Organisation Ambulanzfahrzeuge. Daneben arbeitet das Team an der Wasser- und Hygieneversorgung sowie an Ernährungsprogrammen.

Die Sanktionen und die humanitäre Hilfe

Auslöser des Bürgerkriegs waren zunächst friedliche Proteste im Zuge des Arabischen Frühlings, auf die der syrische Despot Baschar al-Assad mit brutalster Gewalt reagierte.

In this photo released by the official Syrian state news agency SANA, Syrian President Bashar Assad, center, and his wife Asma, visit the site of a devastating earthquake that rocked Syria and Turkey, ...
Präsident Baschar al-Assad und seine Frau Asma besuchen das Katastrophengebiet – allerdings nur die Regionen, die unter seiner Kontrolle sind. Die syrischen Staatsmedien begleiten ihn dabei auf Schritt und Tritt. Hier in Jableh am 11. Februar. Bild: keystone
In this photo released by the official Syrian state news agency SANA, Syrian President Bashar Assad, center, and his wife Asma visit a wounded survivor of devastating earthquake, at a hospital in Alep ...
Präsident Baschar al-Assad und seine Frau Asma stehen am Krankenbett eines Erdbebenopfers. Aleppo am 10. Februar.Bild: keystone

Fast unmittelbar nachdem Assad gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen war, haben westliche Staaten strikte Wirtschaftssanktionen gegen Syrien verhängt. In Europa und der Schweiz sind die Sanktionen als EU-Verordnung geregelt, in den USA in Form eines präsidialen Dekrets. Die US-Sanktionen sind dabei etwas schärfer als die europäischen.

Grundsätzlich sollen mit den Sanktionen fünf Punkte geregelt werden:

  • Dem Regime darf kein Erdöl abgekauft werden.
  • Keine Waffen oder Dual-use-Güter dürfen geliefert werden.
  • Vermögenswerte der syrischen Zentralbank sind eingefroren.
  • Investitionen in staatsnahe Unternehmen sind verboten.
  • Der geschäftliche Umgang mit bestimmten Personen ist verboten.

Auf den ersten Blick umfasst keiner dieser Punkte humanitäre Hilfe. Doch das Rote Kreuz hat bereits mehrfach moniert, dass die Sanktionen teilweise zu streng angewandt würden. So würden etwa Maschinen als Dual-use-Güter eingestuft und darum gestoppt. Zudem müssten Hilfsorganisationen mit Behörden zusammenarbeiten, wie die Deutsche Cordula Dröge von der Rechtsabteilung des Roten Kreuzes (IKRK) der «Süddeutschen Zeitung» erklärte. Es sei ein Problem, wenn man dafür Ärger mit der EU oder den USA bekomme.

Trotzdem betonte Dröge, dass das IKRK keine generelle Aufhebung der Sanktionen fordere.

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Unterstützer der Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei protestieren in Beirut vor dem UN-Gebäude. Bild: keystone
epa10452582 Syrian Arab Red Crescent (SARC) President Khaled Hboubati attends a press conference in Damascus, Syria, 07 February 2023. The head of the Syrian Arab Red Crescent, Khaled Haboubati said t ...
Khaled Hboubati vom Syrischen Roten Halbmond kritisiert die Sanktionen.Bild: keystone

Die USA haben ihre Sanktionen gegen Syrien nun vorübergehend gelockert, um Hilfslieferungen zu beschleunigen: 180 Tage lang sollen für «alle Transaktionen im Zusammenhang mit Erdbebenhilfeannahmen» die Sanktionen ausgesetzt werden.

So wird es wohl einfacher, die ganz dringend benötigten Güter und Maschinen ins Land zu schaffen.

Analysten der BBC relativieren allerdings, dass dieses Vorgehen in erster Linie dazu diene, Banken und anderen Institutionen zu versichern, dass sie nicht bestraft würden, sollten sie Hilfe leisten wollen. Wo die Hilfe dann innerhalb des Landes ankommt, das regelt eine Lockerung der Sanktionen nicht.

Derweilen schreibt die Realität vor Ort weiter tragische Geschichten. «Einige der Überlebenden haben alles verloren: ihre Häuser, ihre Kleidung, den Zugang zu Lebensmitteln, ihr Geld, manchmal einen Teil ihrer Familie – einfach alles», schliesst Massart.

* Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond ist eine private Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Damaskus. Sie ist Mitglied der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.

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quelle: keystone / ghaith alsayed
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Video: watson
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