In einer roten Weste sitzt Khaled Hboubati vom Syrischen Roten Halbmond* bei einer Medienkonferenz an einem Tisch und spricht eindringlich in das Meer aus Mikrofonen, das sich vor ihm auftürmt:
Das war am 7. Februar, einen Tag nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien. Wie sieht die Hilfe in Syrien eine Woche nach der Katastrophe aus? Und behindern die Sanktionen Hilfe tatsächlich?
Die Sanktionen, von denen Hboubati spricht, sind eine Folge des Bürgerkriegs, der die Syrer seit 2011 geisselt. Und nun verhindern die Wirren des Krieges zusätzlich die akute Nothilfe für Erdbebenopfer.
Der syrische Bürgerkrieg hat bereits vor dem Erdbeben eine riesige humanitäre Katastrophe ausgelöst. Laut Schätzungen der UNO wurden über 350'000 Zivilisten getötet, 6,5 Millionen sind auf der Flucht. Emmanuel Massart von der NGO Ärzte ohne Grenzen, die bereits seit zehn Jahren in Nordsyrien tätig ist, sagt auf Anfrage gegenüber watson:
Und viele dieser Vertriebenen haben in den Gebieten Unterschlupf gesucht, die jetzt durch das Erdbeben dem Erdboden gleichgemacht wurden.
Im Zuge des Bürgerkrieges ist das moderne Staatsgebiet Syriens in Regionen zerfallen, die entweder von der Regierung des Präsidenten Baschal al-Assad und seinen ausländischen Bündnispartnern, den Volksverteidigungseinheiten der Kurden, von Rebellen oder von islamistischen Gruppierungen kontrolliert werden.
Diejenigen Gebiete, die vom Erdbeben betroffen sind, werden von mehreren Kriegsparteien kontrolliert – die am schwersten betroffenen Gebiete von der Opposition. Und das ist ein Problem für die akute Nothilfe, die nach den Erdbeben nötig ist.
Denn die anhaltende Unsicherheit und die Zugangsbegrenzungen schränkten die Möglichkeiten stark ein, humanitäre Hilfe zu leisten, so Massart. Aktuell sei die Bereitstellung von Hilfsgütern sowie die Versorgung und der Transport von Patienten in kritischem Zustand prioritär.
Benötigt werden nach den Erdbeben Nahrung, Wasser, Küchensets, Medikamente, Decken, provisorische Unterkünfte, aber auch Bagger. Massart betont, dass die Folgen des Erdbebens «ein hohes Mass an lokaler und internationaler Unterstützung» forderten.
Bis anhin forderte Assad Staaten und Organisationen auf, Hilfe nur über Damaskus nach Syrien zu schicken. Von dort aus würden die Güter in zentralistischer Manier verteilt. Dieses Vorgehen soll in den Augen des Regimes unterstreichen, dass die Souveränität Syriens von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt wird.
In der Praxis aber wird Hilfe für den Nordwesten seit Jahren von der benachbarten Türkei aus über eine Grenze bei Bab El Hawa eingeschleust, doch dieses Verfahren erfordert alle sechs Monate die Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Und im UN-Sicherheitsrat hat Russland – das mit Damaskus verbandelt ist – ein Veto. Der Sicherheitsrat debattiert gerade, weitere Grenzübergänge zu öffnen, damit akute Nothilfe nach den Erdbeben zu den Betroffenen gelangen kann.
Massart bestätigt diese Zustände gegenüber watson. Er erklärt, dass der Transport von Hilfsgütern und Medikamenten aus der Türkei nach Syrien während der letzten zehn Jahre immer eine Herausforderung gewesen sei. «Der einzige Grenzübergang für humanitäre Konvois nach Nordwestsyrien war bereits vor der Katastrophe Gegenstand von politischen Spannungen.» Zudem hatten die humanitären Teams nie Zugang zu allen Menschen:
Aufgrund der Erdbebenkatastrophe habe Ärzte ohne Grenzen der syrischen Regierung ein formelles Unterstützungsangebot unterbreitet – und noch keine Antwort erhalten. Darum könne die Organisation derzeit nur dort Hilfe leisten, wo sie bereits seit Jahren präsent ist. «Wir mussten den Zugang zur Region für unsere medizinischen Aktivitäten nicht verhandeln», so Massart.
Die wenigen Versuche, humanitäre Hilfe nach den Erdbeben über die internen Frontlinien in die Erdbebengebiete zu liefern, waren bis jetzt ein äusserst gefährliches Unterfangen, wie Reuters schreibt. So wurde ein Konvoi aus dem kurdisch gehaltenen Nordosten, der in den Nordwesten hätte fahren sollen – in ein Gebiet, das von Rebellengruppen gehalten wird, die von der Türkei unterstützt werden –, in mehrere Kämpfe verwickelt. Alle Seiten beschuldigten sich danach gegenseitig, Hilfe zu politisieren.
Ein UN-Sprecher meldete am Sonntag, dass Hilfe beim Überqueren von Frontlinien durch «Genehmigungsprobleme» aufgehalten werde.
Das Team von Ärzte ohne Grenzen in Nordsyrien besteht aus rund 500 Mitarbeitenden. Es unterstützt dort Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Kliniken in Vertriebenenlagern. Zudem stellt die Organisation Ambulanzfahrzeuge. Daneben arbeitet das Team an der Wasser- und Hygieneversorgung sowie an Ernährungsprogrammen.
Auslöser des Bürgerkriegs waren zunächst friedliche Proteste im Zuge des Arabischen Frühlings, auf die der syrische Despot Baschar al-Assad mit brutalster Gewalt reagierte.
Fast unmittelbar nachdem Assad gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen war, haben westliche Staaten strikte Wirtschaftssanktionen gegen Syrien verhängt. In Europa und der Schweiz sind die Sanktionen als EU-Verordnung geregelt, in den USA in Form eines präsidialen Dekrets. Die US-Sanktionen sind dabei etwas schärfer als die europäischen.
Grundsätzlich sollen mit den Sanktionen fünf Punkte geregelt werden:
Auf den ersten Blick umfasst keiner dieser Punkte humanitäre Hilfe. Doch das Rote Kreuz hat bereits mehrfach moniert, dass die Sanktionen teilweise zu streng angewandt würden. So würden etwa Maschinen als Dual-use-Güter eingestuft und darum gestoppt. Zudem müssten Hilfsorganisationen mit Behörden zusammenarbeiten, wie die Deutsche Cordula Dröge von der Rechtsabteilung des Roten Kreuzes (IKRK) der «Süddeutschen Zeitung» erklärte. Es sei ein Problem, wenn man dafür Ärger mit der EU oder den USA bekomme.
Trotzdem betonte Dröge, dass das IKRK keine generelle Aufhebung der Sanktionen fordere.
Die USA haben ihre Sanktionen gegen Syrien nun vorübergehend gelockert, um Hilfslieferungen zu beschleunigen: 180 Tage lang sollen für «alle Transaktionen im Zusammenhang mit Erdbebenhilfeannahmen» die Sanktionen ausgesetzt werden.
So wird es wohl einfacher, die ganz dringend benötigten Güter und Maschinen ins Land zu schaffen.
Analysten der BBC relativieren allerdings, dass dieses Vorgehen in erster Linie dazu diene, Banken und anderen Institutionen zu versichern, dass sie nicht bestraft würden, sollten sie Hilfe leisten wollen. Wo die Hilfe dann innerhalb des Landes ankommt, das regelt eine Lockerung der Sanktionen nicht.
Derweilen schreibt die Realität vor Ort weiter tragische Geschichten. «Einige der Überlebenden haben alles verloren: ihre Häuser, ihre Kleidung, den Zugang zu Lebensmitteln, ihr Geld, manchmal einen Teil ihrer Familie – einfach alles», schliesst Massart.
* Der Syrisch-Arabische Rote Halbmond ist eine private Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Damaskus. Sie ist Mitglied der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung.