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TikTok: Verbieten oder damit auf Stimmfang gehen?

FILE - The icon for the video sharing TikTok app is seen on a smartphone, Tuesday, Feb. 28, 2023, in Marple Township, Pa. New Zealand lawmakers and other workers inside the nation's Parliament wi ...
Bild: AP

Verbieten oder damit auf Stimmfang gehen? Die Tiktok-Challenge für Schweizer Politiker

Kinder und Jugendliche lieben die chinesische Video-App. Politiker sehen darin ein chinesisches Spionageinstrument. In den USA wird debattiert, sie zu verbieten. In mehreren Ländern ist sie für Politiker gesperrt. Auch bald in der Schweiz?
31.03.2023, 08:4931.03.2023, 08:49
Raffael Schuppisser und Stephanie Schnydrig / ch media
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Es ist eines jener Videos, die sich in den letzten Tagen auf Tiktok viral verbreitet haben. Die Kamera fokussiert auf den vierzigjährigen Tiktok-Chef Shou Zi Chew. Dann fragt eine strenge Stimme aus dem Off: «Herr Chew, wenn ich meine Kopfhörer einstöpsle, kann dann Tiktok meine Gedanken lesen?» Herr Chew blickt verwirrt.

Das Video macht sich lustig über die amerikanischen Abgeordneten, welche den Tiktok-Chef letzte Woche in einer Anhörung fünf Stunden lang in aggressivem Tonfall mit Fragen bombardiert haben: «Sind Sie zu hundert Prozent sicher, dass die chinesische Regierung Tiktok nicht als Propagandainstrument gegen Taiwan nutzt?», «Kann Tiktok amerikanische Bürger ausspionieren, ja oder nein?».

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Tiiktok-Chef Shou Zi Chew stellt sich in einer Anhörung den Fragen der US-Politiker.Bild: keystone

Für viele westliche Politiker ist Tiktok ein Spionage- und Propagandawerkzeug. In den USA läuft deshalb eine Debatte darüber, ob die chinesische Video-App im ganzen Land verboten werden soll - für Politiker mit Zugang zum Regierungsnetzwerk ist sie das schon. Seit kurzem dürfen auch EU-Parlamentarier die App auf ihren Diensthandys nicht mehr nutzen. Ebenfalls Verbote gibt es unter anderem für Politiker in Belgien, Neuseeland und Dänemark. In der Schweiz gelten bislang keine Einschränkungen.

Unter Schweizer Primarschülern ist Tiktok die klare Nummer 1

Seit 2018 verbreitet sich die Videoplattform so schnell wie vor und nach ihr kein anderes soziales Netzwerk. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist Tiktok nicht mehr wegzudenken. Es ist für die das, was für die grauhaarigen Politiker das Fernsehen ist: eines der wichtigsten Unterhaltungs- und Informationsmedien. In den USA verbringen die 18- bis 24-Jährigen bereits doppelt so viel Zeit auf der Plattform Tiktok wie auf Instagram.

Auch in der Schweiz ist Tiktok bei den Primarschülern die klare Nummer 1 unter den sozialen Netzwerken, wie die soeben erschienene Mike-Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zeigt. In der Studie wird regelmässig die Mediennutzung von Kindern zwischen 6 und 13 Jahren untersucht. Demnach wird Tiktok von 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler mindestens einmal pro Woche genutzt, gefolgt von Snapchat (28 Prozent) und Instagram (17 Prozent).

Bei den Schweizer Jugendlichen sind es rund zwei Drittel, die die App nutzen, Mädchen tendenziell intensiver als Buben. Die beliebteste Social-Media-App war im vergangenen Jahr, als die Zahlen dieser Altersgruppe von der ZHAW letztmals veröffentlicht wurden, aber noch Instagram.

Ein soziales Netzwerk ohne Freude - Tiktok pervertiert Social Media

Das Erfolgsrezept von Tiktok ist die konsequente Fokussierung auf kurze Videos und ein ausgeklügelter Algorithmus, der bestimmt, wer welche Inhalte sieht. Die Ursprungsidee der sozialen Medien, dass Nutzer sich einfach mit Freunden und Bekannten vernetzen und deren Beiträge und Fotos sehen können, weicht bei Tiktok einem Algorithmus, der beliebte Videos von allen Nutzern zeigt, egal ob man sie kennt oder nicht. Die Nutzer können zwar auch anderen folgen, müssen aber nicht.

Man könnte auch sagen: Tiktok ist Social Media ohne Freunde. Um von den Chinesen nicht abgehängt zu werden, haben längst auch andere soziale Netzwerke das Konzept kopiert. Reels heissen die Kurzvideos etwa auf Instagram, durch die man sich endlos scrollen kann.

Es ist unbestritten, dass die US-Dienste Tiktok als Gefahr für ihr Geschäftsmodell sehen. Doch ist die App tatsächlich auch ein Spionagewerkzeug der chinesischen Regierung? Das ist unklar. Denn welchen Einfluss die Volksrepublik China auf Tiktok hat, lässt sich nur schwer beurteilen. ByteDance, der in Peking ansässige Mutterkonzern von Tiktok, beteuert, keine Nutzerdaten an die chinesische Regierung weiterzugeben.

Aber: Die chinesische Gesetzgebung zwingt Unternehmen mit Sitz im Land dazu, mit staatlichen Behörden zu kooperieren. «So kann der chinesische Geheimdienst mit Verweis auf die Wahrung der nationalen Sicherheit theoretisch jederzeit die Herausgabe von Nutzerdaten Daten anfordern», sagt Florian Saurwein vom Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Universität Zürich. Das grösste Risiko bestehe für Personen in Machtpositionen, sei es in der Politik, in Unternehmen oder staatlichen Einrichtungen.

«Um dieses Einfallstor staatlicher Überwachung zu schliessen»: Verbot für Bundesmitarbeiter

Sollte man die App also auch in der Schweiz zumindest für Bundesangestellte einschränken? Genau dies fordert der Freiburger Nationalrat Gerhard Andrey (Grüne), «um dieses Einfallstor staatlicher Überwachung zu schliessen». Andrey ist Mitgründer der Digitalagentur Liip und kennt sich mit Apps und sozialen Medien beruflich aus. Er geht davon aus, dass der chinesische Staat TikTok ganz strategisch zur Spionage instrumentalisiert: «Im staatkapitalistischen China sind die Firmen vom Staat gesteuert, er greift direkt und massiv durch.»

Ein generelles, landesweites Verbot einer einzelnen Plattform hält er aber nicht für zielführend: «TikTok ist nur eine unter vielen anderen mit ähnlich problematischen Eigenschaften.» Er verlangt daher, dass die Plattformbetreiber ihre Praktiken und Algorithmen offenlegen. Für die Nutzenden müsse zudem transparent sein, nach welchen Regeln eine Plattform moderiert und nach welchen Kriterien sie Beiträge anzeigt.

Rep. Troy Nehls, R-Texas, far right, joined by Rep. Mary Miller, R-Ill., second from right, calls for the banning of TikTok, the hugely popular video-sharing app, at the Capitol in Washington, Thursda ...
«Verbietet Tiktok!» Konservative und Eltern demonstrieren in Washington.Bild: keystone

Wie Andrey zudem betont, ist nicht nur Chinas Umgang mit Daten problematisch, sondern auch derjenige der USA. Deren Taktiken seien zwar etwas subtiler. Mit dem sogenannten Cloud-Act könne der amerikanische Staat aber ebenfalls weitreichend Daten von Plattformbetreibern einfordern, auch ausserhalb der USA. Und wenn er die Anfrage als geheim klassiere, bekomme davon niemand etwas mit.

«Dank Tiktok kennen mich Schüler»: Andri Silberschmid ist der Polit-Influencer Nummer 1

Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und Geschäftsführerin der Swico, des Schweizer IT-Branchenverbands, beurteilt die Debatte so: «Eine einzelne App zu verbieten, bloss weil sie aus China kommt, entspricht nicht unserem Wirtschafts- und Rechtssystem.» Eine gesunde Distanz zur App hält sie aber für angebracht. Sie selbst ist nicht auf Tiktok vertreten.

Anders Andri Silberschmidt: Der 29-jährige Zürcher FDP-Nationalrat ist der Tiktok-Star unter den Schweizer Politikern. Er hat über 13 000 Follower, einige seiner Videos wurden mehr als hunderttausendmal angesehen. Dass er als Bundespolitiker auf seinem Handy die Tiktok-App installiert hat, findet er trotz entsprechender Verbote in den USA und der EU unproblematisch. «Ich vertraue den Sicherheitseinstellungen meines iPhones und sehe nicht ein, warum die App anders behandelt werden soll als Instagram oder Facebook», sagt er.

Würde ihm aber ein IT-Experte nachvollziehbar darlegen können, dass die Installation der App ein Sicherheitsrisiko sei, würde er die App von seinem Handy löschen. Nicht aber Tiktok verlassen, sondern seine Follower von einem anderen Gerät bewirtschaften. «Tiktok ist ein wichtiges Medium für mich als Politiker. Ich erreiche hier ein junges Publikum. Wenn eine Schulklasse ins Parlament kommt, kennen sie mich bereits», sagt er.

«Es gibt keine Möglichkeit, nachzuweisen, ob China die Finger im Spiel hat»

Es ist nicht nur die unklare Datensicherheit, die von Fachleuten kritisch beurteilt wird. Besorgniserregend ist ihnen zufolge auch der unter Verschluss gehaltene Algorithmus. Ein Algorithmus hat die Macht, den Informationsraum zu verzerren und zu manipulieren.

Bei Tiktok bestimmt er, welche Videos den Nutzenden vorzugsweise gezeigt werden, bei welchen die Verbreitung gedrosselt wird und welche Inhalte ganz gesperrt werden. «Es gibt aber keine Möglichkeit, nachzuweisen, ob China seine Finger im Spiel hat», sagt Florian Saurwein, der sich in seiner Forschung vor allem mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der algorithmischen Selektion befasst.

Die Intransparenz bezüglich Algorithmus und Datensammeln betreffe aber nicht nur Tiktok, sondern ohne Ausnahme alle Social-Media-Plattformen. «Denn auf den Algorithmen und Daten bauen sie schliesslich ihr gesamtes Geschäftsmodell auf», sagt Saurwein.

Auch wenn die US-Regierung das nicht öffentlich sagt, so geht es bei einem möglichen Tiktok-Verbot auch darum, die technologische Vormachtstellung gegenüber China nicht zu verlieren. «Ein Tiktok-Verbot könnte erst der Anfang sein», schrieb das «Wall Street Journal». Andere chinesische Apps wie WeChat oder Alipay, die gerade an Beliebtheit im Westen gewinnen, könnten folgen.

Der kalte Technologiekrieg zwischen China und dem Westen ist im Gang

Auf die gleiche Weise gelang es China, vor zwei Jahrzehnten eine eigene Tech-Industrie aufzubauen, indem Google, Facebook, Twitter und Co. einfach ausgesperrt wurden und stattdessen ähnliche Dienste unter eigener Flagge aus dem Boden gestampft wurden. Diese sind nun teilweise so erstarkt, dass sie auch im Westen zunehmend zur Konkurrenz für die US-Firmen werden könnten. Bereits ist die Rede von einem kalten Technologie-Krieg.

Das zeigt: Tiktok hat die Kraft, Gräben aufzureissen. Zwischen China und dem Westen. Aber auch zwischen der Jugend und den Babyboomern. Denn der jungen Generation spielt es kaum eine Rolle, dass ihre Lieblingsapp aus China kommt. Tiktok zu verbieten, bedeutete für die US-Regierung auch ein Risiko. Sie würde das Unverständnis und den Zorn der Jüngsten zu spüren bekommen.

«Behaltet Tiktok! »Jugendliche demonstrieren in Washington.
«Behaltet Tiktok! »Jugendliche demonstrieren in Washington. bild: keystone

Nach der Anhörung im US-Kongress beobachteten manche Tiktok-Nutzerinnen und Nutzer, dass die Videos besonders häufig in der Timeline auftauchen, die den Tiktok-CEO Shou Ze Chew in gutem Licht präsentieren sowie solche, die sich, wie eingangs beschrieben, über die Kongressabgeordneten lustig machten. Drehten Tiktok-Programmierer da im Hintergrund wohl am Algorithmus? «Ausschliessen kann man das nicht, dass die für Tiktok positiven Botschaften gepusht wurden», sagt Florian Saurwein.

Die andere - genauso erdenkliche - Möglichkeit sei aber, dass sich viele Tiktok-Nutzer mit der Plattform solidarisierten und die positiven Nachrichten mit den vollmundigen Versprechen von Shou Ze Chew von sich aus rege teilten. «Man muss da realistisch sein», sagt Saurwein, «die jungen Leute finden Tiktok einfach toll.» (aargauerzeitung.ch)

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