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«Der Angriff kann kommen» – ukrainischer Botschafter redet Klartext

Interview

«Der Angriff kann jederzeit kommen» – ukrainischer Botschafter redet Klartext

Artem Rybchenko, 38, ist der Botschafter der Ukraine in der Schweiz. Er erklärt, wie gefährlich die Lage in seiner Heimat derzeit ist, wieso das Tessin in diesem Sommer zu einem ukrainischen Hotspot wird, warum der drohende Konflikt uns alle etwas angeht – und wieso es trotz allem keinen Grund zur Panik gibt.
04.02.2022, 09:29
Samuel Schumacher / ch media
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Draussen in der verregneten Schweizer Bundesstadt dröhnen an diesem Mittwochnachmittag die Sirenen über die Dächer. Nur ein Test, zum Glück. In der Heimat von Artem aber könnte bald ernster Kriegsalarm geschlagen werden.

Rybchenko wirkt entspannt, als er sich auf den blauen Sessel in der Botschaftsstube am Berner Feldeggweg setzt. Die 120'000 russischen Soldaten an der Grenze seines Landes, machen die ihm keine Angst? «Erstmal gilt die goldene Regel: Keine Panik schieben».

Artem Rybchenko ist seit 2018 ukrainischer Botschafter in der Schweiz.
Bild: Alex Spichale
Zur Person
Artem Rybchenko (38) ist seit 2018 der Botschafter der Ukraine in der Schweiz. Er ist Jurist und zweifacher Familienvater.

Trotzdem, Herr Botschafter: US-Präsident Joe Biden glaubt fest daran, dass Russland Ihre Heimat erneut angreifen wird. Moskau hingegen betont, es gäbe keine solchen Pläne. Wem glauben Sie?
Botschafter Artem Rybchenko: Wir können leider nichts ausschliessen. Den Russen trauen wir nicht. Seit Beginn der Okkupation auf der Krim und im Osten der Ukraine 2014 sind mehr als 15'000 Menschen in unserem Land getötet worden. Und die Anzahl schwerbewaffneter russischer Soldaten an unseren Grenzen hat jüngst noch einmal extrem zugenommen.

«Unsere Truppen haben den Befehl, niemals selber anzugreifen. Sie dürfen erst schiessen, wenn sie selber angegriffen werden.»

Sie glauben also an einen neuen Krieg?
Russland ist ein Meister der Provokation. Bei zahlreichen Konflikten weltweit lassen sie es so aussehen, als hätte jemand anderes mit dem Streit begonnen und sie nur reagiert. Wir befürchten, dass sie diese alte Taktik auch in der Ukraine anwenden könnten. Zudem: In den besetzten Gebieten im Osten und auf der Krim leben heute sehr viele Menschen mit einem russischen Pass. Die Pässe wurden zwangsweise ausgestellt. Die Russen könnten jederzeit einmarschieren mit der Begründung, sie müssten «ihre Leute» schützen.

(Anmerkung der Redaktion: Am Donnerstag teilten die Vereinigten Staaten amerikanische Geheimdienstinformationen, wonach Russland ein gefälschtes Video habe in Umlauf bringen wollen, das einen vermeintlichen Angriff auf die russische Bevölkerung in den besetzten ostukrainischen Gebieten zeigen soll. Das Video, so die amerikanische Darstellung, wolle Russland als Begründung nutzen für einen «Vergeltungsschlag» gegen die Ukraine.)

Ein Szenario besagt, dass russische Truppen von Weissrussland her einen Angriff auf Kiew starten könnten. Die ukrainische Hauptstadt liegt nicht einmal 230 Kilometer südlich der weissrussischen Grenze.
Leider sind unsere einst sehr freundschaftlichen Beziehungen zu Weissrussland nicht mehr gut. Die Russen könnten jederzeit von überallher angreifen: Es gibt Truppen im Norden in Weissrussland, im Osten an der Grenze, im Süden auf der Krim. Auch ein gleichzeitiger Angriff von allen Seiten ist denkbar.

«Die Ukrainerinnen und Ukrainer machen Erste-Hilfe-Kurse, lernen Verstecke kennen und richtig mit Informationen umzugehen.»

Wäre die ukrainische Armee denn bereit, den Angriff abzuwehren?
Die Armee wurde lange Zeit vernachlässigt. Im Vergleich zu 2014 ist sie heute viel besser ausgerüstet. Und anders als 2014 wissen wir jetzt genau, was rund um uns herum vorgeht. Die ganze Welt spricht über den Truppenaufmarsch der Russen. Wir sind bereit, die russischen Aggressoren aufzuhalten. Was ich aber betonen möchte: Unsere Truppen haben den Befehl, niemals selber anzugreifen. Sie dürfen erst schiessen, wenn sie selber angegriffen werden.

Mal ganz provokativ gefragt: Warum sollte der Konflikt in der Ukraine die Schweiz überhaupt kümmern?
Bei dem, was in der Ukraine gerade passiert, geht es nicht nur um die Ukraine. Wenn Russland mit seinen Plänen in der Ukraine Erfolg hat, dann sendet das ein extrem gefährliches Zeichen an andere Regime, die vielleicht ähnliche Pläne hegen. Nämlich, dass die Koalition der demokratischen Länder sich und ihre Werte im Notfall nicht verteidigen kann.

Seit dem 1. Januar dürfen Zivilisten in der Ukraine mit ihrer eigenen Waffe den Ernstfall üben. Macht das die Situation nicht fast noch gefährlicher?
Jeder darf sich selber schützen. Das ist auch in der Schweiz so. Schon 2014 beim Angriff der Russen auf das Donezbecken (den Donbas) und auf die Krim haben unsere Truppen Unterstützung von zahlreichen zivilen Verbänden erhalten. Nur dank ihnen konnte der Konflikt gestoppt werden. Die Ukrainerinnen und Ukrainer üben jetzt aber nicht nur den Umgang mit Waffen. Sie machen Erste-Hilfe-Kurse, lernen Verstecke kennen und richtig mit Informationen umzugehen.

«Es gibt nur einen diplomatischen Weg, um die Krise zu lösen, keinen militärischen.»

Kinder lernen in der Schule beispielsweise wieder, wie Minen aussehen, damit sie nicht aus Versehen mit ihnen spielen.
All das sind letztlich «Basics», die alle von uns gut gebrauchen könnten. Denken Sie nur an die Wiederholungskurse in der Schweizer Armee und daran, dass die Schweizer Soldaten die Waffen noch Jahre nach ihrem Dienst zu Hause im Keller haben.

Trotz der angespannten Lage mahnt Ihr Präsident Wolodimir Selenski die Bevölkerung dazu, nicht in Panik zu geraten. Ist dieses Ruhig-Bleiben jetzt angebracht?
Panik ist nie gut, in keiner Situation. Präsident Selenski versucht, die Leute sachlich zu informieren. Seine Botschaft ist klar: Es gibt nur einen diplomatischen Weg, um die Krise zu lösen, keinen militärischen.

epa09725399 Ukrainian President Volodymyr Zelensky speaks during a joint briefing with his Turkish counterpart (not pictured) following their talks at the Mariinsky Palace in Kiev, Ukraine, 03 Februar ...
Präsident der Ukraine, Wolodimir SelenskiBild: keystone

Wie geht die ukrainische Bevölkerung mit der Situation um?
Auf der Krim oder im Donbas ganz im Osten ist der Krieg leider nichts Neues. Diese Gebiete sind seit 2014 von Russland besetzt. Die Fake-News-Kampagnen Russlands verunsichern viele. Aber wenn Sie nach Kiew kommen, dann spüren Sie nichts von all dem.

Wirklich? Erste Länder – darunter die USA und Grossbritannien – haben bereits die Familien ihrer Botschafter aus Kiew abgezogen.
Derzeit ist Kiew nicht bedroht. Ich unterstreiche das noch einmal: Panik ist jetzt nicht angebracht. Aber natürlich respektieren wir die Entscheidungen dieser Länder voll und ganz. Gleichzeitig sind wir dankbar gegenüber jenen Ländern wie der Schweiz, die die Familien ihrer Botschafter nicht abgezogen haben.

«Unser eigener Präsident wäre bereit, jederzeit mit Putin zu verhandeln. Aber der will nicht.»

Mariia Babenko, eine 29-jährige Ukrainerin aus München, hat gegenüber «CH Media» vor ein paar Tagen gesagt: «Wenn Russland erneut einmarschiert, dann werde ich in die Ukraine zurückkehren und kämpfen.» Würden Sie das auch tun?
Als Ukrainer werde ich alles tun, um mein Land, meine Stadt und meine Familie zu beschützen. Gerade als Botschafter in der Schweiz kann ich aber wahrscheinlich mehr zum Ende der Aggression beitragen, denn als Kämpfer in Kiew. Der diplomatische Kampf ist genau so wichtig wie der militärische. Durch diplomatische Bemühungen können wir das schlimmste Szenario hoffentlich doch noch irgendwie abwenden.

Es gibt Stimmen, die fordern, dass sich die Schweiz klarer positionieren und die ukrainische Demokratie vor dem russischen Regime verteidigen soll. Alles andere sei feige. Ist die Schweiz feige?
Die Schweiz ist alles andere als feige. Wir respektieren eure Neutralität zu hundert Prozent. Trotzdem hat sich die Schweiz klar positioniert und festgehalten, dass die Krim zur Ukraine gehört und Russland der Aggressor ist. Die Schweiz beteiligt sich beispielsweise an unserer Initiative «Krim-Plattform», mit der wir seit 2021 auf diplomatischem Weg versuchen, die Eroberung der Krim-Halbinsel rückgängig zu machen. Kommt hinzu, dass die Schweiz unsere Reformprojekte mit rund 110 Millionen Franken bis 2024 unterstützt. Und zu guter Letzt findet vom 4. bis 5. Juli die 5. Ukraine-Reformkonferenz statt, diesmal in Lugano, an der es um unsere Transformationspläne geht. Das ist so eine Art «Mini-WEF» für die Ukraine. Und gerade jetzt an diesem Sonntag feiern wir das 30-jährige Bestehen unserer diplomatischen Beziehungen. Für all das sind wir der Schweiz sehr dankbar.

Im Mai 2014 – kurz nach Ausbruch der Krimkrise – reiste der damalige Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter nach Moskau, um Putin von einem Waffenstillstand zu überzeugen. Müsste Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis jetzt nicht auch nach Moskau reisen?
Herr Burkhalter reiste damals in seiner Funktion als Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nach Moskau und auch nach Kiew. Bundespräsident Cassis war ja kürzlich in Genf und hat dort die beiden Aussenminister aus Russland und den USA empfangen. Das hilft viel mehr. Denn wissen Sie, wenn jemand wie Präsident Putin seine Meinung partout nicht ändern will, dann nützt auch gutes Zureden nichts. Unser eigener Präsident wäre bereit, jederzeit mit Putin zu verhandeln. Aber der will nicht. Immerhin wurde ja kürzlich das «Normandie-Format» wiederbelebt, wo die Ukraine, Frankreich, Deutschland und Russland gemeinsam über einen Waffenstillstand sprechen. Das ist schon mal ein Start. Das nächste Treffen in Berlin ist bereits geplant.

Die Schweiz beteiligt sich bislang nicht an den Sanktionen, die im Zusammenhang mit der Krim-Eroberung gegen Russland verhängt worden sind. Ist das der richtige Entscheid?
Die Schweiz achtet sehr genau darauf, dass das Land nicht zur Umgehung der Sanktionen missbraucht wird und unterstützt damit den Sanktions-Mechanismus.

Was fordern Sie in dieser schwierigen Situation von Europa?
Die Ukraine muss sich zuallererst auf sich selber verlassen können. Wir verlassen uns auf unsere Armee, auf unsere Diplomaten und auf unsere Politiker. In den vergangenen Jahren fühlten wir uns aber tatsächlich ein bisschen vergessen. Jetzt sind wir wieder in den internationalen Schlagzeilen – leider wegen diesen unschönen Entwicklungen. Gerade in den vergangenen Monaten aber wurden wir von vielen Ländern nicht nur militärisch, sondern auch finanziell unterstützt, um unsere Wirtschaft im Schuss zu halten.

«Wir sind ein freies Land, ganz anders als Russland.»

Trotzdem: Bislang hat sich kein einziges Land dazu bereit erklärt, im Fall einer russischen Invasion dann auch wirklich Truppen in die Ukraine zu entsenden. Fühlen Sie sich da nicht alleingelassen?
Truppen sind nicht der einzige Weg, um Allianzen zu schmieden. Gerade am Dienstag haben der britische Premier Boris Johnson und der polnische Premier Mateusz Morawiecki Kiew besucht und das neue Kooperations-Projekt «London – Warschau – Kiew» vorgestellt. Solche Besuche zeigen vor allem auch Wladimir Putin, dass die Ukraine nicht alleine dasteht.

Wäre die Ukraine in der Nato, sähe die Situation anders aus. Wann wird es soweit sein?
Es liegt leider nicht an uns, das zu entscheiden. Ein Land, das in einen militärischen Konflikt verwickelt ist, darf nicht beitreten. Aber 59 Prozent der Ukrainer wollen in die Nato. Dieser Wunsch ist in der Verfassung festgehalten.

Und warum soll die EU das Land aufnehmen?
Wir sind sprichwörtlich gleich um die Ecke. 2019 haben wir unsere Verfassung verändert. Seither ist die Mitgliedschaft in der EU ganz offiziell unser Ziel. Zwei Drittel aller Ukrainer wollen in die EU. Wir möchten Teil der europäischen Familie werden. Wir möchten den Lebensstandard für unsere Leute verbessern. Gerade die jungen Leute, die viel reisen, sehen ja, wie gut das Leben in anderen Ländern ist und was man in der Ukraine verbessern könnte. Natürlich können wir nicht alles für die Ukraine übernehmen. Aber wir haben in den vergangenen Jahren viele Reformen angepackt.

In der Wahrnehmung mancher Schweizer ist die Ukraine gar nicht so anders als Russland: Probleme mit Korruption, arme Bevölkerung. Mit einem Einkommen von weniger als 3500 Franken pro Jahr ist die Ukraine vor Moldawien das zweitärmste Land Europas. Was unterscheidet Ihr Land denn eigentlich von Russland?
Wir sind ein freies Land, ganz anders als Russland. Die russische Sprache etwa hat es bei uns immer schwerer. Ukrainisch zu reden, ist sexy, besonders unter jungen Leute. Auch unsere Kultur unterscheidet sich stark von jener Russlands. Aber da hört es nicht auf: Die Ukraine hat in ihrem 30-jährigen Bestehen schon sechs verschiedene demokratisch gewählte Präsidenten gehabt. Vergleichen Sie das mal mit Russland oder mit Weissrussland.

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43 Kommentare
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oliversum
04.02.2022 13:17registriert Februar 2014
"Die Ukraine hat in ihrem 30-jährigen Bestehen schon sechs verschiedene demokratisch gewählte Präsidenten gehabt."
Das ist wahrscheinlich der wichtigste Satz: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ex-Sowjet-Republiken ist die Ukraine eine Demokratie. Eine junge zwar, und hin und wieder knarzt es etwas, aber es ist eine Demokratie - ganz anders in Russland oder Belarus.
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Salvatore_M
04.02.2022 11:50registriert Januar 2022
Ein gutes Interview. Wir in der Schweiz leben friedlich, gerade auch mit unseren Nachbarstaaten. Wir haben vor unseren Grenzen keine einsatzbereite Angriffsarmee mit deutlich mehr als 100‘000 Mann. An der ukrainischen Grenze ist es anders. Dass die Situation für die Ukrainer, d.h. gerade auch für die Bevölkerung, belastend ist, wird im Interview aufgezeigt. Ich finde es daher gut, dass die ukrainische Führung versucht, Panik zu vermeiden. Hoffen wir somit, dass die Diplomatie die Krise entschärfen kann und dass die russischen Soldaten zurück in ihre Kasernen verlegt werden.
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JBV
04.02.2022 10:37registriert September 2021
"Den Russen trauen wir nicht."

Das fehlende Vertrauen ist DAS zentrale Problem in dieser Krise, wie auch in den internationalen Beziehungen überhaupt. Charaktere wie Putin, Trump, Erdogan, Bolsonaro, Xi... und und und, kennen kein Vertrauen. Sie wittern überall Verrat und Handeln dementsprechend. Jeder versucht nur seine Interessen durchzusetzen ohne die Interessen anderer zu betrachten und zu respektieren.
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