In der Schweiz haben bis Ende September rund 3000 Personen aus Algerien, Marokko und Tunesien ein Asylgesuch gestellt. Im gleichen Zeitraum wurden nur fünf Personen aus diesen Ländern als Flüchtlinge anerkannt. Asylsuchende aus Nordafrika fallen negativ auf mit überdurchschnittlich viel Kleinkriminalität.
Beat Stauffer ist ein profunder Kenner der Maghreb-Staaten. Seit mehr als 40 Jahren bereist der 71-jährige Journalist und Autor regelmässig alle Länder des Maghreb – vor allem Tunesien, Algerien und Marokko, wo er fast ein Jahr lebte. Jetzt legt er ein neues Buch mit Fokus auf den Maghreb vor: «Die Sackgasse der irregulären Migration».
Herr Stauffer, mit 24-Stunden-Verfahren will die Schweiz seit einigen Monaten Asylsuchende aus den Maghreb-Staaten abschrecken. Spricht sich das herum, meiden sie deshalb unser Land?
Beat Stauffer: Die Schnellverfahren sind nur ein Faktor unter vielen. Die Asylsuchenden und Migranten sind sehr gut informiert darüber, was sie in einem Land erwartet. Sie wissen Bescheid über die Qualität der Unterkünfte, über die medizinische Betreuung, ob sie in den Ausgang gehen dürfen oder nicht etc. Entscheidend für den leichten Rückgang der Asylgesuche ist, dass in diesem Jahr deutlich weniger Migranten über die zentrale Mittelmeerroute in Italien ankommen. Der Hauptgrund: Italien hat mit Tunesien, aber auch Libyen Abkommen zur Eindämmung der irregulären Migration abgeschlossen. Kurze Verfahrensdauern sind zu begrüssen, sie lösen aber das Hauptproblem nicht.
Weshalb?
Die drei entscheidenden Punkte sind: rasche Identifikation, Dauer der Papierbeschaffung und die Abschiebung im Falle eines negativen Entscheids. Ein rasches Verfahren macht nur wenig Sinn, wenn die Identität der Migranten unbekannt ist oder sie unter falschen Angaben ein Asylgesuch stellen. Wenn sie abgelehnt werden, ziehen sie häufig weiter und reichen unter einem Alias-Namen ein neues Gesuch ein. In der Schweiz merken die Behörden dann, dass dieselben Fingerabdrücke zwei verschiedenen Namen zugeordnet werden können. Den echten Namen und das Herkunftsland des Betreffenden kennen sie aber weiterhin nicht. Die Beschaffung von Identitätspapieren wird so enorm schwierig. Das Herkunftsland kann sagen, wir kennen niemanden, der so heisst. Beweist uns zuerst, dass das überhaupt ein Algerier oder ein Marokkaner ist.
Werden die Asylsuchenden zu wenig in die Pflicht genommen?
Ja. Es kann nicht sein, dass sie nur Rechte haben, aber praktisch keine Pflichten. Sie stehen täglich in Kontakt mit Bekannten in ihrer Heimat, schicken sich Filme, stellen Fotos in soziale Medien, wenn sie in Lampedusa ankommen oder an der Street Parade in Zürich mittanzen. Die meisten Gesuchsteller aus dem Maghreb verstecken ihre Papiere. Es wäre ein Leichtes, Geburtsurkunden, Schulzeugnisse oder auch die ID des Vaters oder Bruders einzuscannen und diese via Smartphone zu übermitteln. Entscheidend ist dabei der genaue Familienname und vor allem die lokal übliche Schreibweise – arabische Namen können bekanntlich unterschiedlich transkribiert werden. Selbst in entlegenen Regionen im Maghreb verfügt heute jede Grossmutter über ein Smartphone. Die Probleme bei der Identifikation von Asylsuchenden dürften das Schweizer Asylwesen jährlich Hunderte Millionen kosten.
Wenn die Identität klar ist, gestaltet sich auch die Papierbeschaffung einfacher.
Genau. Gestützt auf völkerrechtliche Verpflichtungen kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) dann von den Herkunftsstaaten verlangen, dass sie ein Laissez-passer ausstellen für abgewiesene Asylsuchende und für schwere Straftäter, die die Schweiz verlassen müssen. Im letzten Jahr dauerte die Papierbeschaffung laut dem Monitoring des SEM bei allen Ländern im Durchschnitt 369 Tage. Die Herkunftsstaaten betreiben offensichtlich Obstruktion und verstecken sich hinter der angeblich unklaren Identität ihrer Landsleute. Die Maghreb-Staaten wie auch die meisten Herkunftsstaaten von Asylsuchenden und irregulären Migranten haben kein Interesse daran, ihre Bürger zurückzunehmen, weil diese eine Belastung darstellen. Aus diesem Grund verzögern oder verunmöglichen sie die Abschiebungen. Die Schweiz hat zwar mit Algerien ein Rückübernahme- und mit Tunesien ein Migrationsabkommen, das einigermassen funktioniert. Aber bis ein Laissez-passer vorliegt, dauert es zu lange.
Die meisten Gesuchsteller aus Nordafrika stammen aus Algerien, Marokko und Tunesien. Dort herrscht kein Krieg. Was treibt die grossmehrheitlich jungen Männer nach Europa?
Es ist in erster Linie die wirtschaftliche Situation, die sich besonders für die breite Bevölkerung seit dem Arabischen Frühling stark verschlechtert hat. Dies gilt für alle arabischen Staaten, die nicht über Erdöl- oder Erdgasvorkommen verfügen, also etwa für Tunesien, Ägypten oder Libanon. Zudem ist die Arbeitslosigkeit bei den unter 30-Jährigen sehr hoch. Viele junge Menschen erleben ihre Länder als blockiert, reformunfähig und einengend, auch im – theoretisch – reichen Algerien. Die Macht der Bilder von einem besseren Leben in Europa kontrastiert mit der eigenen, als trist empfundenen Realität und der Perspektivlosigkeit. Diese Kluft wird als sehr schmerzhaft empfunden.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien?
Eine enorme. Die Leute informieren sich zwar auch von Mund zu Mund in ihren Quartieren, vor allem aber in sozialen Medien, etwa über geschlossene Facebook-Gruppen. Es handelt sich um eine Art Forum für irreguläre Migranten, in dem man alles über Fluchtrouten erfährt und wie man sich verhält, wenn man in Italien ankommt. Welche Verfolgungsgründe man geltend macht. Wie man den Aufenthalt verlängern kann. Auch praktische Tipps gehören dazu: Wo es gratis Essen gibt, wo man ein Obdach erhält, was man tut, wenn man im Zug beim Schwarzfahren erwischt wird.
In sozialen Medien inszenieren erfolgreiche Migranten ihr neues Leben in Europa. Wie wichtig ist dieser Faktor?
Sehr wichtig. Noch bedeutender sind allerdings die Geschichten aus der Nachbarschaft. Alle kennen Beispiele von Migranten, die mit Autos, schönen Kleidern in die Ferien zurückkehren. Bis vor dem Ukraine-Krieg schafften es noch recht viele irreguläre Migranten, irgendwie Fuss zu fassen. Heute ist dies sehr schwierig geworden. Doch diese Negativbeispiele werden verdrängt.
Aus welchen sozialen Schichten stammen die irregulären maghrebinischen Migranten?
Zum grössten Teil aus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Viele sind Schulabbrecher ohne Berufsausbildung oder Diplome und entsprechend schlecht bis sehr schlecht ausgebildet. Sie stammen zudem meist aus unterprivilegierten Regionen im Hinterland oder aus ärmlichen Vorstadtquartieren.
Was für Geschichten erzählen sie den Behörden?
Es gibt zwei Kategorien. Die einen sagen ehrlich, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunft sehen. Die anderen schieben Fluchtgründe vor und berichten etwa, ihre Familie werde politisch verfolgt, weil sich der Vater kritisch über die Regierung geäussert habe. Dabei bleiben die meisten politisch engagierten Menschen im Land und oder verabschieden sich in die innere Emigration. Auch abenteuerliche Geschichten gehören zum Repertoire. Zum Beispiel, man werde mit dem Tod bedroht, weil man in eine Schlägerei mit dem Sohn eines mächtigen Schmugglers geraten sei. Solche Storys lassen sich naturgemäss nicht überprüfen. Eine kleine Anzahl von Menschen hat hingegen Schutzgründe.
Die Asyl-Anerkennungsquote von Menschen aus dem Maghreb ist in Europa sehr tief, in der Schweiz bei etwa einem Prozent. Weshalb brechen dennoch so viele auf die lebensgefährliche Reise nach Europa auf?
Sie sind verzweifelt, frustriert, häufig auch sozial marginalisiert, und sie erwarten nichts mehr von ihrem Heimatland, in dem sie kaum Aussicht haben auf ein Leben, wie sie es sich wünschen. Ein nicht unerheblicher Teil hat Vorstrafen. Es handelt sich um Desperados, die nichts mehr zu verlieren haben und es in Kauf nehmen, im Mittelmeer zu ertrinken.
Wie schlagen sie sich in Europa durch?
Es gibt zwei Strategien. Die einen versuchen von Anfang unterzutauchen. Über informelle Netzwerke, vor allem in den grossen Banlieues von Frankreich, Belgien und Holland, mogeln sie sich durch. Sie wenden alle möglichen Tricks an, leihen zum Beispiel Ausweise oder Aufenthaltsbewilligungen eines Cousins aus. Alle hoffen, über eine Heirat mit einer Frau mit maghrebinischen Wurzeln einen legalen Aufenthalt erlangen zu können.
Wie lautet die andere Strategie?
Diese Menschen stellen von Anfang an oder gleich bei der Ankunft in der Schweiz ein Asylgesuch und setzen auf ein langes Verfahren in der Hoffnung, in der Zwischenzeit lasse sich eine Lösung finden. Sie wissen, dass sie mit Rekursen oder Untertauchen Abschiebungen verhindern oder hinauszögern können. Viele ziehen nach der Ablehnung ihres Asylgesuchs aber in ein anderes Land und stellen unter einem anderen Namen erneut ein Asylgesuch. De facto entsteht so eine totale Personenfreizügigkeit für junge, irreguläre Migranten. Andere bleiben in der Schweiz und finanzieren ihren Lebensunterhalt durch Diebstähle.
Wer profitiert von dieser Migration? Wer sind die Verlierer?
Das ist sehr kompliziert. Es gibt auf beiden Seiten Gewinner und Verlierer. Wenn ein irregulär eingereister Migrant in Europa bleiben und arbeiten kann, dann profitiert er selber, aber auch seine Familie, sofern er regelmässig Geld schickt, und auch das Aufnahmeland. Wer sich etabliert, wird auch weniger kriminell. Doch häufig scheitern die jungen Maghrebiner, auch weil Europa nach der Flüchtlingswelle 2015/16 und nach dem Ukraine-Krieg restriktiver geworden ist. Viele halten sich mit Schwarzarbeit oder Diebstählen irgendwie über Wasser. In Italien und Spanien zum Beispiel profitieren ganze Branchen, vor allem die Land- und Bauwirtschaft, indem sie die Menschen ausbeuten. Doch insgesamt ist die irreguläre Migration in den letzten Jahren zu einer Sackgasse geworden, bei der sowohl die irregulären Migranten wie auch die europäischen Staaten verlieren.
Im Idealfall würden die Migranten, ihre Familien, ihre Heimat-, aber auch die Aufnahmeländer profitieren.
Deshalb plädiere ich ganz klar dafür, dass Europa irreguläre Migration bekämpft, aber im Gegenzug in einem gewissen Mass legale, gesteuerte Migration zulässt.
Weshalb tut sich Europa so schwer bei der Eindämmung der irregulären Migration?
Wir haben praktisch nichts mehr in der Hand gegen irreguläre Migranten, weil auch sie rechtlich wie schutzwürdige Flüchtlinge behandelt werden. Es gibt allerdings kein Recht, in ein Land seiner Wahl zu reisen und sich dort beliebig lange niederzulassen. Da wir so wenig Spielraum haben, müssen wir die wenigen Mittel konsequent einsetzen. Abschiebungen müssen vollzogen werden, sonst machen die aufwendigen Verfahren keinen Sinn. Zwingend sind auch ein besserer Schutz der EU-Aussengrenzen und die Verhinderung von Sekundärmigration. Das wirksamste Mittel ist die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten. Derzeit kann die Mehrheit der abgelehnten Asylbewerber aus dem Maghreb nicht zurückgeführt werden.
Wo würden Sie ansetzen?
Die Maghreb-Staaten sind in der Lage, irreguläre Ausreisen mittels Grenzkontrollen relativ gut zu verhindern, wenn sie es wollen. Kurzfristig können wir nur hoffen, dass die Herkunftsländer bereit sind, ihre ausreisewilligen jungen Bürger zurückzuhalten – es sind gegen 90 Prozent junge Männer. Zu diesem Zweck müssen die Schweiz und die anderen europäischen Staaten eng mit diesen Ländern zusammenarbeiten und ihnen substanzielle Angebote machen – und zwar auf Augenhöhe und nicht in paternalistischer Manier. Darauf reagieren sie allergisch.
Was kann Europa anbieten?
In den Staaten südlich und östlich des Mittelmeers leben insgesamt Millionen junge, schlecht ausgebildete und ausreisewillige junge Männer. Es braucht Zentren vor Ort, in denen man diesen Menschen – auch minderjährigen – eine minimale Ausbildung anbietet, zum Beispiel Anlehren. Dies muss Europa finanzieren, sonst machen die Länder nicht mit. Europa hat zurzeit keine Alternative, als die irreguläre Migration stark einzudämmen. Im Gegenzug sollten wir in einem gewissen Ausmass legale Migration erlauben. Die Schweiz könnte zum Beispiel pro Jahr 1000 Personen aus Tunesien legal einreisen lassen, die Hälfte davon ausgebildete Fachkräfte, die andere Hälfte bilden wir aus oder weiter. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat Tunesien im Rahmen eines Migrationsabkommens 12'000 Visa angeboten, gegen besseren Grenzschutz und raschere Rückübernahmen abgewiesener Asylsuchenden. Es scheint zu funktionieren. Zudem sollte Europa dringend in diesen Staaten investieren und Handelshemmnisse abbauen.
Weshalb sind Asylsuchende aus dem Maghreb überdurchschnittlich kriminell?
Es gibt mehrere Gründe. Maghrebiner fühlen sich von Europa abgelehnt. Ihre Chancen auf Asyl sind ja bekanntlich äusserst gering. Aus dieser Frustration rächen sie sich in einem gewissen Sinn an Europa und holen sich, was es zu holen gibt. Es handelt sich oft um Personen aus der Unterschicht, zum Teil sind die vorbestraft. In Tunesien sagen viele hinter vorgehaltener Hand: «Wir sind froh, dass sie gehen.»
Der Migrationsdruck bleibt hoch. Schafft das Europa?
Ich mache mir Sorgen. Die meisten Staaten Europas sind stark verschuldet. Wie sollen sie den Herausforderungen einer neuen Migrationswelle begegnen? Europa muss die Migration steuern, sonst gibt es riesige Probleme. Wir sollten probieren, auch neue Möglichkeiten zu testen, etwa Verfahren in Drittstaaten durchzuführen. Sehr wichtig wäre es, die im Rahmen des neuen europäischen Asyl- und Migrationspakts (Geas) vorgesehenen Aufnahmezentren für Menschen mit geringen Chancen auf Asyl an den EU-Aussengrenzen so rasch als möglich zu errichten und zu testen, ob das Ganze überhaupt funktioniert. Mittelfristig wäre es wohl sinnvoll, im Maghreb Zentren für Asylsuchende – auch aus afrikanischen Staaten – zu realisieren. Diese müssten unter der Aufsicht des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge stehen. Dazu braucht es allerdings die Einwilligung der betreffenden Staaten. Die Bereitschaft dazu ist zurzeit allerdings nicht vorhanden.
Beat Stauffer: «Die Sackgasse der irregulären Migration» (erschienen bei NZZ Libro, ISBN: 978-3-907396-90-2)
(aargauerzeitung.ch)
Und auf diese Millionen will die bestens geschmierte Asylindustrie keinesfalls verzichten. Man will gar nichts ändern.