Umverteilung gehört immer zu den Folgen, wenn der Preis von Rohöl hochgeht: Geld fliesst ab aus den westlichen Industriestaaten, und hinein in die ölexportierenden Staaten. So auch nach dem Ölpreis-Hoch von 2022, das mit dem Nachlassen der Coronapandemie einsetzte. Die Ausmasse dieser laufenden Umverteilungsrunde sind allerdings ungewöhnlich gross. Am Montag hat der Ölgigant Saudi Aramco vermeldet, einen Gewinn von 50 Milliarden Dollar erwirtschaftet zu haben. Und das mal eben so in nur drei Monaten. Es ist der weltweit höchste Gewinn, den jemals ein Unternehmen erreicht hat.
Irgendwo her ist dieser Berg von Geld natürlich gekommen – nicht nur, aber auch aus den Portemonnaies von westlichen Autofahrern und Gewerblerinnen, die mehr für Benzin und Diesel zahlen. Mieterinnen oder Hauseigentümer müssen mehr für Heizöl ausgeben. Die Energiepreise gingen hoch in der Schweiz, in Italien oder in Deutschland. Es ist einer der wichtigsten Erklärungen dafür, dass die Inflation zurückgekehrt ist. Die Konsumentenpreise sind im Durchschnitt so stark gestiegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
In der Schweiz waren es 3.4 Prozent mehr als im Vorjahr. Einer der mächtigsten Preistreiber waren die Erdölprodukte, wie sich herauslesen lässt aus den Zahlen des Bundesamts für Statistik. Deren Preise lagen im Juli über 40 Prozent höher als im Vorjahr. Ohne diesen Preisanstieg wäre die Inflation bei 2.4 Prozent gelegen – also einen vollen Prozentpunkt tiefer. Rechnet man alle Ausgaben für Energie und Treibstoffe heraus, wäre die Inflation gar nur knapp über 2 Prozent gelegen.
Daher ist das teure Rohöl ein wichtiger Teil der Erklärung, warum die kommende Lohnrunde aus Sicht der Arbeitnehmenden insgesamt eher ein Flop sein wird. Und dies, obschon der Fachkräftemangel derzeit rekordhoch ist und alle Welt rätselt, warum es nicht genug Velomechanikerinnen hat, genug Köche oder Kellnerinnen. Mehr noch: Die realen Löhne werden sogar leicht sinken – das erwartet die KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Nach Abzug der Inflation werden die Arbeitnehmenden also mit ihren Löhnen nicht etwa deutlich mehr kaufen können – sondern etwas weniger.
Die Gewerkschaften erheben zwar Forderungen von bis zu 5 Prozent und drohen gar mit «sozialen Unruhen», wie es Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes, in der «SonntagsZeitung» getan hat. Dagegen konterte Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, in der «NZZ am Sonntag»: «Beim Lärmen sind die Gewerkschaften top.» Doch jenseits des verbalen Gehaues wird es ruhiger zu- und hergehen.
Die Unternehmen würden sich vor allem auf das Argument berufen, sie seien nicht verantwortlich für die gestiegenen Konsumentenpreise, sie hätten nicht in gleichem Masse davon profitiert, sagt Michael Siegenthaler von der KOF Konjunkturforschungsstelle. Der Arbeitsmarktexperte sagt:
Gemäss dieser Logik würde gelten: Bei den Unternehmen in der Schweiz ist nicht viel Geld zu holen – es ist abgeflossen in die ölexportierenden Staaten. Nicht Valentin Vogt, dem Arbeitgeberpräsidenten, müssen die Gewerkschaften mit «sozialen Unruhen» drohen, sondern Mohammed bin Salman, Saudi-Arabiens Kronprinz und De-facto-Machthaber. Der darf nun den Megagewinn von Saudi Aramco mit beiden Händen ausgeben.
Jedoch sind diese 48.4 Milliarden Dollar nicht die einzige Folge der gewaltigen Umverteilung hin zu den Ölexporteuren. «Der Ölboom im Jahr 2022 wird einen riesigen Geldsegen bringen», schrieb kürzlich der «Economist». Die Grösse dieses Segens hat der Internationale Währungsfonds geschätzt. In den nächsten vier oder fünf Jahren werde den ölexportierenden Ländern im Nahen Osten und in Zentralasien über 1 Billion Dollar zufliessen. 1 Billion, das sind 1000 Milliarden oder 1'000'000'000'000.
Es ist für die Ölexporteure wie ein Lottogewinn – und wie alle Lottogewinner fragen sie sich, was nun zu tun ist. Eigentlich haben sie sich vorgenommen, das Geld nicht zu verschwenden, wie der «Economist» schreibt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben Subventionen gestrichen und neue Steuern erhoben. Dennoch könnte es am Ende gigantische Verschwendungen geben, da etwa Saudi-Arabien sein Heil in gewaltigen Infrastrukturprojekten sucht. Mitten in der Wüste soll etwa die Stadt Neom errichtet werden, für geschätzte 500 Milliarden Dollar – und eine Frage wird gar nicht gestellt: Wer soll das Zeug nutzen?
Immerhin könnte es der letzte solche Ölboom gewesen sein, da der Westen nun vielleicht tatsächlich vorwärtsmacht mit einem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Zuletzt haben die USA ein neues Gesetz verabschiedet, mit dem über ein Jahrzehnt hinweg 370 Milliarden Dollar investiert werden in die Abkehr vom Erdöl. US-Präsident Joe Biden jubelte auf Twitter, bald werde sein Land vier Mal so viele Solarmodule haben wie heute, fast eine Milliarde.
In 2021, there were 240 million solar panels operating in America.
— President Biden (@POTUS) August 13, 2022
In eight years, thanks to the Inflation Reduction Act, there will be nearly a billion. pic.twitter.com/t94QKR1qZk
Am anderen Ende dieser Umverteilung hat man andere Sorgen. In den Industriestaaten muss die Bevölkerung vor den gestiegenen Energiekosten geschützt werden, zumindest teilweise. Wer geschützt werden soll und wie – darüber wird heftig debattiert. Ökonomen befürworten, dass den Bedürftigsten möglichst direkt geholfen wird. Hingegen solle man zum Beispiel nicht Benzin künstlich verbilligen, da sonst das Preis-Signal verloren geht: Benzin ist teuer – also besser ein Elektroauto kaufen oder auf den ÖV umsteigen.
Das wiederum halten konservative Politiker für weltfremdes Geschwätz. Schliesslich hätten viele Menschen ihr Leben auf dem Benzinauto aufgebaut, zum Beispiel ihren Wohnort und den Arbeitsplatz so ausgewählt – sie könnten gar nicht auf die Schnelle alles umstellen. Es sind sehr ungleiche Sorgen, die gerade vorherrschen in westlichen Industriestaaten wie der Schweiz und in Saudi-Arabien. (aargauerzeitung.ch)