Die Ukraine ist eines der am stärksten verminten Länder der Welt. Wie Sky News berichtet, sind fast 40 Prozent der Ukraine mit Minen übersät, dies entspricht der Fläche des Vereinigten Königreichs. Das ukrainische Innenministerium bezeichnet das Land als «das am stärksten verminte Land der Welt».
Vor einer Woche warnte Human Rights Watch vor dem massiven Einsatz von Schmetterlingsminen, das sind Antipersonenminen, die in grossem Umfang aus der Luft abgeworfen werden können und nicht vergraben werden müssen. Viele dieser Minen wurden in der Umgebung der befreiten Stadt Isjum gefunden. Für die Mehrzahl der gefundenen Schmetterlingsminen ist vor allem Russland verantwortlich, aber auch die ukrainische Armee soll diese Sprengkörper eingesetzt haben.
Anfang Januar warnten die ukrainischen Behörden vor der wachsenden Gefahr, die von Antipersonenminen ausgeht, insbesondere in den ehemals von der russischen Armee kontrollierten Gebieten. Die Behörden hatten daraufhin ein Video veröffentlicht:
Не підходь! Не чіпай! Не панікуй! «Правило трьох Не» — головний меседж навчального відеоролику.
— DSNS.GOV.UA (@SESU_UA) January 12, 2023
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Dmijtro und Nadia arbeiten beide als Minenräumer in der Region Tschernihiw im Norden des Landes. Diese Einheimischen wurden von der Schweizer Stiftung für Minenräumung (FSD), einer NGO mit Sitz in Genf, angestellt und ausgebildet. Seit letztem Sommer machen sie mit ihren Metalldetektoren Jagd auf nicht explodierte Minen und Granaten.
Die FSD ist in vielen Ländern aktiv, etwa in Afghanistan, Irak und Kolumbien. Ein Grossteil ihrer Mitarbeitenden ist nun in der Ukraine stationiert. Wie gehen sie vor? Die FSD stellt Einheimische, die das Gelände gut kennen, ein und bildet sie aus, um Sprengkörper aufzuspüren und zu entschärfen.
Tschernihiw ist neben Charkiw und Isjum eine der drei Städte, in denen die NGO arbeitet. Diese Städte wurden zu Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im September letzten Jahres befreit.
Die Arbeit von Nadia und Dmijtro ist in drei Kategorien unterteilt: Räumung von Minenfeldern, Kampfzonen und ein schnelles Einsatzteam. Teilweise arbeiten sie in abgegrenzten Gebieten. Es käme auch vor, dass verdächtige Objekte gesichtet würden und sie auswerten müssten. Wenn es sich um einen «einfachen Sprengstoff» handle, könnten sie ihn ausgraben und zurückbringen.
Die Minen sind in der Ukraine nur ein Teil der Arbeit. Die grösste Gefahr gehe von nicht explodierten Granaten aus. Alex van Roy, stellvertretender Einsatzleiter für die FSD, erklärt:
Sie können sich unter dem Boden vergraben, aber auch in städtischen Gebieten in Trümmern oder sogar in einem Wohngebiet stecken bleiben und jederzeit explodieren. «Wenn eine Granate im Boden steckt, sieht man manchmal nur noch die Flosse herausstehen», berichten die Minenräumer. Sie müssten dann beurteilen, ob das Objekt noch gefährlich ist oder nicht, und entscheiden, wie es weitergehen sollte.
Während des Winters ist der Boden gefroren und mit dem Schnee ist es schwierig, effektiv an der Minenräumung zu arbeiten. Die Anzahl der Einsätze ist dann begrenzt und das Team trainiert, um im Frühjahr, wenn der Boden wieder ausgehoben werden kann, besser arbeiten zu können.
Dmijtro und Nadia gehen vorsichtig vor, je nachdem, wie hoch das potenzielle Risiko ist. Wenn der Gegenstand als zu gefährlich eingestuft wird, verfügen die Einheimischen dann nicht über die nötige Erfahrung.
Meistens evakuiert das Spezialteam den Sprengkörper und transportiert ihn dann zu einer Abrissstelle, wo er zerstört wird. Wenn ein Transport nicht möglich ist, wird der Sprengkörper an Ort und Stelle gesprengt. Diese Methode wird auch von der Polizei auf der ganzen Welt angewandt, wenn ein verdächtiges Paket in einem Bahnhof oder Flughafen auftaucht.
Bei diesen Spezialisten handle es sich unter anderem um ehemalige ausländische, oft westliche Militärs, die ihre Fähigkeiten über Jahre hinweg entwickelt hätten. "Manche haben 15 oder 20 Jahre Erfahrung", sagt Alex van Roy.
Dmijtro erklärt, dass er alle Arten von Sprengstoff kenne, die ihm begegnen. Das ist ein großer Vorteil, wenn es darum geht, die Gefahr einzuschätzen, die von einer nicht explodierten Granate ausgeht: «Die erste Granate, die ich behandelt habe, war eine 152mm Granate», so Dmijtro.
Dmijtro sagt, dass er bei seinem ersten Einsatz beeindruckt gewesen sei, bei Nadia ist das nicht der Fall. «Ich hatte mich schon daran gewöhnt», sagt sie. Für die aus Tschernihiw stammende Frau war der Kriegsbeginn brutal. In den ersten Tagen der Invasion war die Stadt, die zwischen der weißrussischen Grenze und Kiew liegt, eine der ersten, die angegriffen wurde.
Nadia war drei Monate vor dem Angriff mit ihrem Mann in eine brandneue Wohnung gezogen. Während dem Krieg trafen mehrere Bomben ihr zuhause und sprengten die Fensterscheiben in ihrem Haushalt: «Die Granatensplitter reichten bis in den Kühlschrank.» Sie sei gezwungen gewesen, sich an einem anderen Ort in der Stadt im Keller zu verschanzen.
Die Zusammenarbeit mit Einheimischen ist für die FSD selbstverständlich: «Sie fühlen sich engagiert und setzen sich dafür ein, den Ort, aus dem sie kommen, sicherer zu machen», erklärt die Stiftung. Ein Gefühl der Verwurzelung, das sich mit Nützlichkeit verbindet:
Dmijtro arbeitet auch im Hochrisiko-Team für Minenräumung. Er überprüft Gebäude, Fahrzeuge, alte Militärstellungen und Schützengräben. Denn nicht explodierte Granaten sind überall zu finden:
Gewisse Sachverhalte sind komplex. Beispielsweise verfügen viele moderne Panzer über eine explosive Reaktivpanzerung, um sich gegen feindliche Raketen zu verteidigen. Diese Reaktivpanzerung explodiert nach aussen, wenn eine Rakete kurz davor ist, den Panzer zu treffen.
Die Anzahl der behandelten explosiven Gegenstände schwankt von einer Woche zur anderen. In einer Woche können mehrere Dutzend Sprengkörper unschädlich gemacht werden. Manchmal kann ein ganzer Tag erforderlich sein, um eine einzige Mine auszuheben.
Alex van Roy weist darauf hin, dass die Schweizerische Stiftung für Minenräumung neutral sei und sich für alle Parteien einsetze, die Hilfe benötigen. Zwar sei es ein klarer Vorteil, mit Ukrainern aus der Region zusammenzuarbeiten, doch es käme nicht in Frage, im Verlauf des Krieges Partei zu ergreifen.
«Wir arbeiten in der Ukraine, weil Kiew uns erlaubt, zum Minenräumen auf seinen Boden zu kommen, aber wir ergreifen keine Partei», stellt der Experte klar.
Länder wie Vietnam und Kambodscha befinden sich auch 50 Jahre nach dem Ende des Krieges noch in der Phase der Minenräumung. Auch der ukrainische Boden wird, je länger der Krieg dauert, immer mehr von Minen und Blindgängern zersetzt.