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Brüssel wird für Schweizer Lobbyisten zum Paradies

epa11576188 Tourists visit the Atomium in Brussels, Belgium, 31 August 2024. Brussels' iconic monument, Atomium, was built as the centerpiece of the 1958 Brussels World's Fair. The landmark, ...
Brüssel ist das Machtzentrum der EU.Bild: keystone
Analyse

Brüssel wird für Schweizer Lobbyisten zum Paradies

Parlamentarier fordern eine eigene Vertretung in Brüssel. Sie möchten auf dem Laufenden sein, was an neuen EU-Gesetzen auf sie zukommt. Überhaupt: Brüssel wird für Schweizer Lobbyisten zum Paradies.
09.11.2025, 11:2909.11.2025, 11:29
Remo Hess, Brüssel / ch media

Wenn die belgische Hauptstadt Brüssel das Zentrum der Europäischen Union ist, dann ist der Round Point Schuman das Herz dieses Zentrums.

Das Quartier rund um den Kreisel ist der Kraftort, von dem aus die Europäische Union bewegt wird: Hier liegt die Schaltzentrale von EU-Chefin Ursula von der Leyen. Hier stehen zahlreiche Botschaften aller Herren Länder. Tagtäglich streifen zehntausende Diplomaten und EU-Beamte durchs Viertel mit seinen Glaspalästen. Mindestens so viele Lobbyisten und Berater folgen ihnen auf den Fersen. Es ist ein Politik-Gewusel, das man so ähnlich wohl nur in Washington oder im internationalen Genf erlebt.

Nur etwas hört man im allgemeinen Durcheinander selten: Schweizerdeutsch. Eidgenossinnen und Eidgenossen sind im politischen Brüssel der Gegenwart eine Rarität. Aber das dürfte sich bald ändern.

«Decision shaping» – das Recht, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen

Der Grund ist die dynamische Übernahme von EU-Recht. Sie ist der Kern der neuen Abkommen mit der EU. Stimmt die Schweizer Bevölkerung den neuen Verträgen zu, kommt es zum Paradigmenwechsel. Die Schweiz vollzieht EU-Recht nicht mehr wie heute «autonom» nach. Sondern der Mechanismus wird umgekehrt. Ein Teil der Schweizer Gesetze wird also ganz offiziell nicht mehr in Bern, sondern in Brüssel gemacht. Es ist eine institutionelle Machtverschiebung in die EU-Hauptstadt. An diesem Punkt setzt auch die Hauptkritik der EU-Gegner wie der SVP an.

Aber auch andere Schweizer Akteure fragen sich, was das für die direkte Demokratie bedeutet. Bereits vor einem Jahr forderte der Demokratie-Aktivist Daniel Graf im Interview mit dieser Zeitung, dass man der Machtverschiebung folgen müsse: «Sobald die dynamische Rechtsübernahme in Kraft ist, müssen Verbände und Organisationen in Brüssel vertreten sein», so Graf. Aber Lobbying in Brüssel kostet Geld. Deshalb fordert Graf einen «Ressourcenausgleich», damit «künftig möglichst viele Schweizer Organisationen auf europäischer Ebene präsent sein können.»

Schweizer Botschaft wird ausbauen müssen

Dass die neuen Abkommen ein wesentlicher Integrationsschritt sind, ist unbestritten. Auf institutioneller Ebene sehen die Verträge deshalb das sogenannte «Decision Shaping» vor, was sich wörtlich mit «Entscheidgestaltung», sinngemäss mit Entscheidfindung übersetzen lässt.

Das heisst, dass Schweizer Experten künftig bei der Entwicklung von neuen Gesetzen in Brüssel zwar nicht mitbestimmen, aber mitwirken dürfen. Sie können das Wort ergreifen, Mitberichte verfassen und der Schweizer Position Nachdruck verleihen. Das heisst: Es kommt viel Arbeit auf die Diplomaten zu. Aus dem erläuternden Bericht des Bundesrates zu den neuen Abkommen geht hervor, dass die Schweizer Vertretung in Brüssel deshalb personell gestärkt werden soll.

Das Bundesparlament soll eigene Vertretung erhalten

Aber auch die Legislative, also das Schweizer Parlament, hat Brüssel für sich entdeckt. Die Mitte-Partei hält in ihrer Vernehmlassungsantwort auf das EU-Paket explizit fest, dass sie eine ständige Vertretung des Parlaments vor Ort wünscht. Alle anderen Parteien ausser der SVP sehen das gleich. Nach dem Motto: Wenn wir Parlamentarier schon einen Teil unserer Gesetzgebungskompetenz an Brüssel abgeben, möchten wir wenigstens wissen, was da genau vor sich geht – und gegebenenfalls Einfluss nehmen. Der Bundesrat unterstützt die Idee.

Wird in Brüssel an der EU-Hauptzentrale also bald eine Dependance des Bundeshauses eröffnet?

Das dann doch nicht. Aber an der Schweizer Mission bei der EU – am Place de Luxembourg, gleich neben dem EU-Parlament und nur ein paar Minuten von Schuman-Kreisel entfernt – ist bereits heute ein Vertreter der Kantone untergebracht. Er arbeitet Seite an Seite mit den 42 Schweizer Diplomatinnen und Diplomaten sowie 15 Detachierten aus den bundesrätlichen Departementen. Gleichwohl ist er unabhängig von der Missions-Chefin, Botschafterin Rita Adam, und ist direkt der Konferenz der Kantonsregierungen unterstellt.

Dereinst könnte auch das Parlament über eine solche Vertretung verfügen. Sie würde nicht von Bundesrat Ignazio Cassis‘ Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA), sondern von den Parlamentsdiensten entsandt. Ihre wichtigste Aufgabe wäre es, frühzeitig die für die Schweiz relevanten Gesetzesvorhaben zu erkennen und dem Parlament unabhängige Informationen bereitzustellen. Von einer «vertrauensbildenden Massnahme» spricht Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter.

An bester Lage am Place Luxembourg, gleich neben dem EU-Parlament: 57 Beamte arbeiten auf der Schweizer Mission.
An bester Lage am Place Luxembourg, gleich neben dem EU-Parlament: 57 Beamte arbeiten auf der Schweizer Mission.Bild: Mission der Schweiz bei der Europäischen Union

Für dieses Vorgehen gibt es bereits ein Vorbild: wie künftig die Schweiz übernehmen auch die EWR-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein das EU-Recht dynamisch. Für allzu grosse Probleme hat das bislang nicht gesorgt. Es gab jedenfalls noch nie ein EU-Gesetz, welches die EWR-Staaten nicht übernehmen konnten – oder übernehmen wollten. Mit entscheidend dafür ist das effiziente «Decision Shaping», das die EWR-Mitglieder schon seit Jahren, und meist gemeinsam betreiben.

Transparenz und Mitwirkung: So macht es Norwegen

Allgemein könnte die Schweiz vom EWR-Land Norwegen noch einiges lernen, wie man sich auch als Nicht-EU-Land trittsicher durchs Polit-Ökosystem bewegt.

Zurück zum Round Point Schuman, dem Brüsseler Gravitationszentrum: Dort steht, in Sichtweite des Büros von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, das «Norway House». Dort ist nicht nur die EU-Botschaft des Landes untergebracht, sondern auch Vertreter der grossen Energieunternehmen, der Telekom-Branche, der Verteidigungsindustrie, Gewerkschaften oder der norwegischen Regionen. Von einem «Team Norwegen» ist die Rede. Das heisst: Norwegens Regierung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft arbeiten in Brüssel möglichst Hand in Hand.

Von einem solchen Gemeinschafts-Effort ist die Schweiz noch weit entfernt.

«Abgesehen von der diplomatischen Vertretung ist die Schweiz in Brüssel weitgehend abwesend», beschreibt es Jean Russotto. Er muss es wissen: Der aus Montreux stammende Schweizer Anwalt ist seit 1972 in Brüssel beruflich tätig und kennt die EU-Blase wie kaum ein anderer. Er hatte unter anderem Mandate der Bankiervereinigung inne und ist auch mit seinen 85 Jahren noch immer aktiv. Erst diese Woche organisierte er eine Konferenz zu den Bilateralen mit Teilnahme von Bundesrat Martin Pfister an der Uni in Genf.

Economiesuisse will Präsenz mit den neuen Abkommen ausbauen

Sucht man nach Schweizer Wirtschaftsvertretern und Interessengruppen in Brüssel, lassen sie sich tatsächlich an zwei Händen abzählen. Die Banken sind mit dem «Swiss Finance Council» präsent. Die Grossen wie Nestlé, Roche oder Novartis haben eigene, im Lobby-Register eingetragene Leute. Aber diese beackern für ihre internationalen Unternehmen vor allem europäische Themen. Die Präsenz der Gewerkschaften beschränkt sich auf die gelegentliche Mitarbeit im europäischen Gewerkschaftsbund «Etuc», und als einziger Schweizer Wirtschaftsverband ist Economiesuisse mit einem zwar erfahrenen, aber einsamen Vertreter hier.

François Baur, der Economiesuisse-Mann in Brüssel, sagt, er sei nicht allein. Seine Verbands-Experten würden regelmässig aus der Schweiz anreisen und seien in den Fachverbänden wie dem europäischen Maschinenverband «Orgalim» sehr aktiv. So könne man sich effizient an der Diskussion zu EU-Rechtsvorschlägen einbringen.

Mit Blick auf das EU-Paket räumt Baur aber ein: «Es ist klar, dass eine Verstärkung unserer Arbeit in Brüssel wichtig ist». Anders ausgedrückt: Der Wirtschaftsdachverband wird seine Präsenz aufstocken.

Andere sprechen von einem tiefer liegenden «Mentalitätsproblem». In der Schweiz meine man, es grundsätzlich besser zu wissen und es folglich ausreiche, die EU-Maschine in Brüssel von zu Hause aus zu bespielen. Insider halten das für einen Irrtum: Ein persönliches Netzwerk vor Ort sei gerade für die Schweiz besonders wichtig, weil sie ja nicht Mitglied der EU sei, sagt ein ein Brüsseler-Gesprächspartner, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will.

Kommt jetzt das «House of Switzerland» samt Raclette-Stübli?

Dabei war es auch schon anders. Anwalt Russotto erinnert sich, dass Ende der 1980er Jahre praktisch jedes grössere Schweizer Unternehmen in Brüssel war. Sogar die SBB hatten ihr eigenes Büro.

Grund dafür war der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors.  1986 lancierte der Franzose das damals bahnbrechende Projekt der Bildung eines gemeinsamen EU-Binnenmarktes. Russotto: «Die Schweiz sah sich davon bedroht und hatte Angst, aussen vor gelassen zu werden». In Vorbereitung auf den EWR sei man damals nicht umhingekommen, die Entwicklungen in der EU aus nächster Nähe zu begleiten und investierte in den Standort Brüssel.

Als die Schweizer Bevölkerung 1992 den EWR-Beitritt knapp ablehnte, hielten die Firmen zunächst an ihrer Präsenz fest. Das änderte sich erst, als die Bilateralen I und II unter Dach und Fach waren. Kontinuierlich seien die Leute von da an aus Brüssel zurückbeordert worden – bis kaum mehr jemand übrig war. Russotto erwartet, dass sich die Situation mit dem neuen Vertragspaket wieder ändern wird: «In dieser neuen Welt braucht man wieder Antennen in Brüssel», so der Schweizer EU-Veteran.

Nebst Russotto gehört «Swiss Core» zu den wenigen Schweizer Standorten in Brüssel. Das Verbindungsbüro für den Forschungs-, Innovations- und Bildungssektor wurde im Jahr 1995, also kurz nach dem EWR-Nein, eingerichtet und feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Acht vornehmlich junge Leute arbeiten bei der vom Bildungsdepartement, dem Nationalfonds und der Schweizerischen Innovationsagentur getragenen Kontaktstelle. Sie vernetzen sich mit anderen Forschungsorganisationen, verfolgen die EU-Rechtssetzung und rühren die Werbetrommel für den Bildungsplatz Schweiz.

Büroleiter Laurin Reding findet, die Schweiz habe eine kleine, aber feine Gemeinschaft in Brüssel. Etwas mehr Sichtbarkeit wäre aber nicht falsch. Er sagt: «Ich fände die Idee eines House of Switzerland ähnlich wie dem House of Norway grossartig. Man könnte sogar ein Raclette-Stübli im Erdgeschoss einrichten. Das wäre garantiert ein grosser Erfolg.» (aargauerzeitung.ch)

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