«Krassester Reality Check meines Lebens»: Ardita nimmt mit der Spritze ab
«Das wäre vor ein paar Monaten so noch nicht möglich gewesen», sagt Ardita* und strahlt. Eben ist sie ins vierte Stockwerk des Pädiatrisch-Endokrinologischen Zentrums (Pezz) in Zürich hochgestiegen. Da es sich dabei um ein altehrwürdiges Haus handelt, gibt es keinen Lift. Nur eine knarzende Holztreppe.
Noch im März wäre Ardita nach dem Treppensteigen völlig ausser Atem gewesen. Damals wog sie bei einer Körpergrösse von 162 Zentimetern 96 Kilogramm. Heute, 7 Monate später, ist die 20-Jährige 18 Kilogramm leichter. Dank Wegovy. Ardita gehört zu den ersten Jugendlichen in der Schweiz, die mit der Abnehmspritze abnehmen. Einmal wöchentlich spritzt Ardita sie sich in den Bauch.
Die Wirkungsweise ist die folgende: Wenn wir essen, produziert unser Darm ein Hormon namens GLP-1. Es löst das Sättigungsgefühl aus. In der Abnehmspritze befindet sich ein GLP-1-Agonist. Vereinfacht gesagt ist das ein Stoff, der das GLP-1-Hormon imitiert, sodass das Sättigungsgefühl schneller einsetzt.
Mittlerweile gibt es Abnehmspritzen, die mehrere Agonisten kombinieren und dadurch effektiver wirken.
Die bekanntesten sind Wegovy und Mounjaro.
«Krassester Reality-Check meines Lebens»
Die Abnehmspritze ist in der Schweiz ab dem Alter von zwölf Jahren zugelassen. Damit es von der Krankenkasse übernommen wird, müssen Patientinnen oder Patienten einen BMI von 35 oder höher haben. Für Kinder und Jugendliche wird er entsprechend angepasst. In der Schweiz ist das die Definition für Adipositas, umgangssprachlich auch schweres Übergewicht oder Fettleibigkeit genannt.
Ardita hatte einen BMI von fast 37, als sie die Therapie begann. An den Moment, als die Waage fast 100 Kilogramm anzeigte, erinnert sie sich genau:
Ardita ist seit ihrer Kindheit übergewichtig – so wie 13,1 Prozent der Mädchen und 14 Prozent der Buben in der Schweiz. Von Adipositas betroffen sind in der Schweiz 2,8 Prozent der Mädchen und 3 Prozent der Buben. Über die letzten zwei Generationen hinweg hat sich vor allem eines geändert: Der BMI von ohnehin schon adipösen Kindern nimmt zu. Salopper ausgedrückt: Die dicksten Kinder werden immer noch dicker.
Ardita erinnert sich nicht mehr daran, wann sie sich das erste Mal dick gefühlt hat. Sicher ist für sie: In der Pubertät wurde es schlimmer.
Vieles, was andere Teenager lieben, war für Ardita Horror: mit Gspänli in die Badi zu gehen zum Beispiel. «Da habe ich meinen Körper immer mit einem Badetuch verborgen. Oder gehofft, mich zwischen meinen Freundinnen verstecken zu können», sagt Ardita. Waren Jungs dabei, habe sie sich noch mehr geschämt.
Ardita erzählt davon, auf dem Fussballplatz von einer Gegnerin so lange wegen ihres Gewichts beschimpft worden zu sein, bis sie in Tränen ausgebrochen sei.
«Ich hatte immer diese Stimme im Kopf, die mir gesagt hat: Du bist fett, niemand will mit dir etwas zu tun haben, schon gar nicht auf einer romantischen Ebene.»
Bauchfrei ist tabu
Wenn Ardita spricht, verschränkt sie oft die Arme unter der Brust. Sie möchte ihren Bauch vor Blicken schützen – bis heute ihre grösste Problemzone, wie sie selbst sagt. «Das ist fast zu einem Reflex geworden», sagt sie. «Läge hier auf der Couch ein Kissen, hätte ich es längst schon gepackt und es mit den Armen umschlungen.»
Zum Termin mit watson erscheint sie in weit geschnittenen schwarzen Stoffhosen und grauem Strickpullover. Dass dieser ärmellos ist, dafür braucht Ardita schon Überwindung: «Vor der Abnehmspritze hätte ich mich noch nicht getraut, meine nackten Arme zu zeigen.»
Ausser ihrem Arzt, ihren Eltern und ihren beiden besten Freundinnen hat Ardita niemandem erzählt, dass sie Wegovy spritzt. Genau wie Übergewicht empfindet Ardita auch die Abnehmspritze als Stigma: Übergewichtige wie sie seien dick geworden, weil sie undiszipliniert und faul seien. Das ist Stigma eins. Und nun sei sie sogar zu faul, die überzähligen Kilos selbst wegzutrainieren, und setze auf die bequeme Lösung Abnehmspritze. Das ist Stigma zwei. Aus Angst vor Verurteilungen spricht Ardita anonym mit watson.
Übermass an Disziplin
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Kinder mit zwei übergewichtigen Eltern werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent ebenfalls übergewichtig. Denn die Tendenz zu Übergewicht wird vererbt.
Zentral ist die Appetitregulation. Je nach genetischer Veranlagung setzt das Sättigungsgefühl früher oder später ein. Entsprechend fällt es manchen Menschen deutlich leichter, nach zwei Guetzli aufzuhören zu essen – während andere die ganze Packung verputzen.
Oder anders ausgedrückt: Menschen wie Ardita, die genetisch bedingt zu Übergewicht neigen, brauchen ein Übermass an Disziplin, um normalgewichtig zu sein.
Abnehmspritzen setzen genau da an. Sie drosseln den Appetit, Ardita drückt es so aus: «Würde ich jetzt die gleichen Mengen essen wie früher, würde mir schlecht. Das fühlt sich dann so an, als käme alles wieder hoch.»
Das Leben nach der Spritze
Ungefähr 20 Jugendliche und junge Erwachsene versuchen am Pezz, mit der Spritze abzunehmen. Das Zwischenfazit fällt durchzogen aus, sagt Klinikleiter Professor Urs Eiholzer im Interview mit watson. Über die Hälfte bricht die Behandlung vorzeitig ab. Weil es ihnen nicht gelingt, ihre Ernährung umzustellen.
Die Behandlung kann aber nur weitergeführt werden, wenn ein Gewichtsverlust von mindestens 5 Prozent (bei über 18-Jährigen sind es 10 Prozent) erreicht und gehalten wird. Die Krankenkassen verlangen regelmässige Berichte.
Ardita hat Angst vor dem Moment, wenn sie das Medikament absetzen wird. Aber:
Ardita weiss, dass das harte Arbeit sein wird. Und viel Disziplin erfordern wird. Obwohl sie Lust gehabt hätte: Die Schokoladen-Guetzli auf dem Teller vor ihr hat sie nicht angerührt.
*Name geändert
