Deutschland und China wollen ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit vertiefen – trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten beim Thema Menschenrechte. Das haben Kanzlerin Angela Merkel und der chinesische Premierminister Li Keqiang bei den virtuellen Regierungskonsultationen an diesem Mittwoch betont.
Merkel sprach von Meinungsverschiedenheiten und wünschte sich von Premierminister Li Keqiang, «dass wir baldmöglichst auch den Menschenrechtsdialog wieder in Gang setzen könnten». Merkel weiter:
Zusammenarbeit und das Hoffen auf einen Dialog – so soll es also auch nach der Zäsur im europäisch-chinesischen Verhältnis im März weitergehen. Die Europäische Union (EU) verhängte damals Sanktionen gegen vier chinesische Offizielle. Der Grund für die Massnahmen waren die chinesischen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Dort soll der chinesische Staat Experten zufolge bis zu eine Million Uiguren, eine muslimische Minderheit, in Umerziehungslager gesperrt haben. Die europäischen Sanktionen gegen die Volksrepublik sind die ersten seit mehr als 30 Jahren.
Doch Peking reagierte scharf.
Kaum hatte die EU ihre Sanktionen erlassen, belegte China im Gegenzug mehrere Europäer mit Strafmassnahmen. Doch das Land dachte gar nicht daran masszuhalten. Peking erliess Sanktionen gegen vierzehn Akteure, darunter zehn Europäer und vier europäische Einrichtungen. Unter anderem wurden der deutsche EU-Parlamentsabgeordnete Reinhard Bütikofer und der Berliner Thinktank Merics mit Sanktionen belegt.
Zum Erstaunen vieler Beobachter war nach der chinesischen Reaktion aus der Bundesregierung nur eines zu vernehmen: Schweigen. Keine Solidarität mit den EU-Parlamentariern, keine Solidarität mit den Berliner Forschern, nichts. Auf Nachfrage erklärt ein Regierungssprecher, die Bundeskanzlerin und die ganze Bundesregierung stünden der chinesischen Entscheidung «mit tiefem Unverständnis» gegenüber. Sie sei unbegründet und unverhältnismässig.
Die Reaktion der Bundesregierung ist merkwürdig realitätsfern. Denn wer sich mit den Aussenbeziehungen Chinas beschäftigt, hat in den vergangenen Jahren ein Muster erkennen können. Es lautet: China gibt nicht mehr klein bei. In Chinas Aussenpolitik galt jahrzehntelang das Credo: Taoguang yanghui, verberge Deine Kraft und warte auf Deine Gelegenheit. Es war vom Reformer Deng Xiaoping ausgegeben worden.
Doch unter Xi Jinping hat das Land davon Abstand genommen. Inzwischen verfolgt Peking das, was in Anlehnung an eine chinesische Action-Serie «Wolfskrieger-Diplomatie» genannt wird: Chinesische Diplomaten boxen die Interessen ihres Landes aggressiv durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Besonders gegenüber Ländern, die sie als kleiner und unbedeutender wahrnehmen, treten Pekings Politiker angriffslustig auf. Aus chinesischer Sicht fällt in diese Kategorie – mit Ausnahme der USA – so ziemlich jedes Land der Welt. Drei Beispiele.
Die Eskalation in den Beziehungen zwischen Schweden und China begann mit einer Festnahme. 2015 verschwand der Buchhändler Gui Minhai auf mysteriöse Weise in Thailand. Gui wurde in China geboren und arbeitete als Publizist in Hongkong. Allerdings ist er schwedischer Staatsbürger.
Wenige Monate nach seinem Verschwinden tauchte Gui dann in einem Video im chinesischen Staatsfernsehen auf. Dort sagte er, dass er freiwillig nach China zurückgekehrt sei, um sich wegen eines viele Jahre zurückliegenden Verbrechens den Behörden zu stellen. Beobachter gehen davon aus, dass das, was das chinesische Staatsfernsehen ein «Geständnis» nannte, in Wirklichkeit erzwungen war.
Im Oktober 2017 wurde Gui aus der Haft entlassen. Doch nur kurz darauf, im Januar 2018, wurde er erneut von zivilen Sicherheitsbeamten festgenommen – als er sich in Begleitung schwedischer Diplomaten auf dem Weg nach Peking befand. Im Februar 2020 wurde er – trotz Protests aus Stockholm – wegen «illegaler Bereitstellung von Informationen im Ausland» zu 10 Jahren Haft verurteilt.
Befeuert wurde die Eskalation im schwedisch-chinesischen Verhältnis vom chinesischen Botschafter in Stockholm, Gui Congyou. Im Januar 2020 verglich Gui die schwedische China-Berichterstattung in einem Interview mit einem Leichtgewichtsboxer, der eine Fehde mit dem Schwergewichtsboxer China provoziere. Schwedische Medien berichten schon seit Längerem über Einschüchterungsversuche der chinesischen Botschaft in Stockholm.
Auch zuletzt nahm die chinesische Botschaft in Stockholm wieder einen Journalisten ins Visier: Sie drohte Jojje Olsson in einer persönlich adressierten E-Mail mit «Konsequenzen», wenn er seine «Schmutzkampagne» nicht einstelle. Zuvor hatte Olssons über Pekings Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang und den chinesischen Boykott des schwedischen Unternehmens H&M berichtet. Drei im schwedischen Parlament vertretene Parteien forderten daraufhin von der Regierung die Ausweisung des Botschafters Guis – bislang ohne Erfolg.
Auch die Eskalation im kanadisch-chinesischen Verhältnis begann mit einer Festnahme – allerdings mit der Festnahme einer Chinesin. Ende 2018 wurde Meng Wanzhou in Vancouver festgenommen, die damalige Finanzchefin des chinesischen Netzwerkausrüsters Huawei. Meng wurde aufgrund eines Auslieferungsantrages der US-Justiz festgenommen. Washington wirft ihr illegale Geschäfte mit Iran vor. Die Chinesin ist nicht im Gefängnis, sondern auf Kaution frei. Für die Dauer ihres Verfahrens, das inzwischen läuft, muss sie aber eine Fussfessel tragen. China bezeichnet das, was aus kanadischer und amerikanischer Sicht ein rechtsstaatliches Verfahren ist, als «Verletzung der Menschenrechte».
Nur wenige Tage nach Mengs Festnahme in Kanada wurden dann in China zwei Männer festgenommen: der frühere Diplomat Michael Kovrig und der Geschäftsmann Michael Spavor. Peking bestreitet, dass die Fälle zusammenhängen, aber jedem Beobachter ist klar: Spavor und Kovrig sind völlig unbeteiligte Geiseln, mit denen Mengs Freilassung erpresst werden soll.
Seit März wird den beiden Kanadiern in China – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – der Prozess gemacht. Derzeit ist nicht einmal klar, was Peking den Männern überhaupt vorwirft. Ein hartes Urteil könnte die Beziehungen vollends eskalieren lassen. Denn inzwischen hat auch das kanadische Parlament seine Haltung zu den Menschenrechtsverbrechen in Xinjiang überarbeitet: Es bezeichnet sie nunmehr als «Genozid».
China hat derzeit zu einer ganzen Reihe von Ländern ein desaströses Verhältnis. Aber das desaströseste Verhältnis hat es wahrscheinlich mit Australien. Seit Anfang des vergangenen Jahres eskaliert es auf dramatische Weise.
Im Zuge der Corona-Pandemie, die in China ausgebrochen war, forderte Australien eine unabhängige Untersuchung. In Peking, wo der Ausbruch anfangs noch vertuscht wurde, stiess das auf Empörung. «Australien ist immer da und macht Ärger», schrieb Hu Xijin, Chefredakteur des Propagandablatts «Global Times», auf Weibo, einer chinesischen Plattform: «Es ist ein bisschen wie Kaugummi, der an der Sohle von Chinas Schuhen klebt. Manchmal muss man einen Stein finden, um ihn abzureiben.»
Im Sommer begann die Volksrepublik, australische Importe mit Strafzöllen zu belegen. Sie führte etwa Zölle auf Rindfleisch und Kohle ein, dann auch auf Wein. Auch fingen die Behörden an, australische Korrespondenten unter Druck zu setzen. Im September verliessen die letzten beiden in China verbliebenen Journalisten, Bill Birtles und Mike Smith, fluchtartig das Land – nachdem sie zuvor von chinesischen Sicherheitskräften festgesetzt worden waren.
Auch wurde im September Cheng Lei festgenommen, eine Journalistin, die in China geboren wurde, aber die australische Staatsbürgerschaft besitzt. Cheng arbeitete zuletzt für den chinesischen Propagandasender CGTN in Peking. Erst sechs Monate nach ihrer Festnahme, im Februar 2021, wurde ihre Haft offiziell bestätigt. Der Frau werde vorgeworfen, chinesische Staatsgeheimnisse ans Ausland weitergegeben zu haben, hiess es.
Auch das chinesische Aussenministerium hat es auf Canberra abgesehen. Als die australische Regierung im vergangenen November Kriegsverbrechen in Afghanistan einräumte, postete ein Sprecher des chinesischen Aussenministeriums auf Twitter eine Fotomontage, die einen grinsenden australischen Soldaten zeigt, der einem afghanischen Kind ein blutüberströmtes Messer an die Kehle drückt. «Hab keine Angst. Wir kommen, um dir Frieden zu bringen», steht unter der Montage. Die Montage rief den australischen Premier auf den Plan. Im Fernsehen nannte Scott Morrison sie «zutiefst beleidigend».
Beobachter gehen davon aus, dass Peking an Canberra ein Exempel statuieren möchte. Die Volksrepublik betrachtet den Pazifik als ihr Einflussgebiet. Mit Australien liegt dort aber eine liberale Demokratie, die zu den engsten Partnern der USA gehört.
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