Am 30. April führten der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundespräsident Ignazio Cassis ein Telefongespräch. Danach deuteten sie es in separaten, auf Englisch abgefassten Tweets lediglich an: Man habe die Möglichkeit diskutiert, dass die Schweiz konsularische Dienste für Ukrainerinnen und Ukrainer in Russland erbringen könnte, schrieb Selenskyj. Cassis notierte, die Schweiz könnte mit ihren Guten Diensten zur Rückkehr zum Frieden beitragen.
Inzwischen steht das Projekt kurz vor dem Abschluss: Die Schweiz dürfte schon bald ein Schutzmachtmandat für die Ukraine in Russland übernehmen. Dies zeigen Recherchen rund um das Treffen von Cassis mit dem ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba vom Dienstagabend am WEF in Davos.
Auf Anfrage bestätigte das Aussendepartement (EDA), die Schweiz habe den beiden Kriegsparteien ihre Guten Dienste angeboten. «Dazu gehören grundsätzlich auch Schutzmachtmandate, welche nach internationalem Recht das Einverständnis aller drei beteiligen Staaten voraussetzen.» Entsprechende Gespräche seien initiiert worden, weitere Informationen würden derzeit nicht bekannt gegeben.
Offensiver kommunizierte am Dienstagabend Kuleba. Er bestätigte gegenüber dieser Zeitung:
Die Vorsicht des EDA einen guten Grund. Wie es schreibt, muss Moskau dem Schutzmachtmandat auch noch zustimmen. Denn nachdem die Schweiz sämtliche EU-Sanktionen gegen Russland übernommen und damit Putins Regime erzürnt hat, ist dies keine Selbstverständlichkeit.
Allerdings wurde Moskau bereits über die Pläne und die laufenden Verhandlungen zwischen Bern und Kiew informiert und hat, so ist zu vernehmen, bisher keine Vorbehalte angebracht. Die Chancen stehen demnach nicht schlecht – allerdings hat sich die russische Regierung zuletzt nicht mit grosser Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit ausgezeichnet.
Die Bemühungen um dieses neue Engagement der Schweizer Diplomatie reichen zurück in den Februar: Mit dem Einmarsch der russischen Truppen hat die Ukraine ihre diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen. Schon kurz darauf signalisierte Bern der Regierung in Kiew, man sei bereit, bei Bedarf als Schutzmacht in Russland zu agieren. Nach einigen Wochen loser Kontakte konkretisierte sich das Vorhaben, mit dem erwähnten Telefonat der beiden Präsidenten am 30. April als Auftakt.
Seither haben Diplomatinnen und Diplomaten beider Seiten die Modalitäten der Vereinbarung ausgehandelt. Die Gespräche drehten sich etwa um die Frage, wie viel Personal die Schweiz stellen wird und wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer künftig unter dem Dach der Schweizer Botschaft in Moskau arbeiten werden. Dabei geht es offiziell nicht um Vermittlungen im Konflikt, sondern um die Erbringung von konsularischen Diensten - wie dem Ausstellen von Ausweisen oder Reisegenehmigungen.
Mandate als Schutzmacht wahrzunehmen, hat in der Schweiz eine lange Tradition: Es geschah zum ersten Mal im Deutsch-Französischen Krieg in den Jahren 1870 bis 1871. Liegen zwei Staaten in einem heftigen Streit, brechen sie oft die diplomatischen Beziehungen zueinander ab – ganz oder teilweise. Ein dritter Staat übernimmt dann einen Teil der konsularischen und diplomatischen Aufgaben.
Das kann in eine Richtung oder in beide geschehen. Die Schweiz vertritt die Interessen der USA gegenüber Iran, während die Interessen Irans gegenüber den USA von Pakistan wahrgenommen werden. Zwischen Russland und Georgien ist die Schweiz hingegen Schutzmacht beider Länder. Nach dem Krieg Russlands gegen Georgien im Jahr 2008 brach Tiflis die diplomatischen Beziehungen zu Moskau ab.
Die Schweiz als neutrales Land ist prädestiniert, für die Rolle als Schutzmacht angefragt zu werden. Im Zweiten Weltkrieg vertrat die Schweiz die Interessen von 35 Staaten. Ein weltweit bekanntes Mandat war die Wahrnehmung der amerikanischen Interessen gegenüber Kuba. Es lief 2015 aus, als die beiden Staaten wieder diplomatische Beziehungen zueinander aufnahmen.
Die Schweiz gilt als zuverlässig und als effizient in der Abwicklung konsularischer und diplomatischer Aufgaben. Zurzeit erfüllt das Land sieben Mandate als Schutzmacht. Seit 2018 nimmt die Schweiz die Interessen Saudi-Arabiens in Iran und umgekehrt wahr; dass die Eidgenossenschaft mit dieser Aufgabe betraut wurde, stiess international auf Beachtung.
Im Zusammenhang mit Schutzmachtmandaten wird häufig von der «Briefträgerfunktion» gesprochen: Für das Land, welches das Mandat wahrnimmt, steht nicht im Vordergrund, zwischen zwei verfeindeten Staaten zu vermitteln, sondern sicherzustellen, dass die Kontakte nicht ganz abbrechen.
Trotzdem wäre es für das EDA zweifellos ein Erfolg, wenn die Ukraine die Schweiz nun als Schutzmacht gegenüber Russland auswählt. Es zeigt, dass die Schweizer Diplomatie nach wie vor hohes Ansehen geniesst.
Keine Soldaten schicken, aber Diplomaten, welche sich für Verständigung und langfristig Frieden einsetzen. Die CH-Diplomaten haben international auch einen besseren Leistungsausweis als unsere Amateur-Armee, welche seit weiet über hundert Jahren keinen Krieg mehr geführt hat.
Klar, Putin wird sich wohl nicht mehr bewegen. Aber Putin wird nicht ewig an der Macht bleiben. Wenn dann die richtigen Strukturen vorhanden sind, kann die Wahrscheinlichkeit für zukünftige Kriege reduziert werden.