«Lasse mir nicht von Linken die Wirtschaft erklären»: SVP-Matter teilt in EU-«Arena» aus
Die «Arena» zum Vertragspaket, das die Schweiz mit der EU verhandelt hat, ist gerade eine Viertelstunde alt, als SVP-Nationalrat Thomas Matter unter sein Pult greift und nichts weniger als den Schweizer Bundesbrief zutage befördert.
Nun gut, es ist nur eine Kopie des sagenumwobenen Briefs von 1291, der oft als Gründungsurkunde der Schweiz herhalten muss. Unter Historikerinnen und Historikern gilt das als Geschichtsfolklore. Das hindert Thomas Matter nicht daran, den Brief in die Kamera zu halten und bedeutungsschwer zu deklamieren:
Auch Marianne Binder-Keller, Ständerätin der Mitte, rührt mit der grossen historischen Kelle an. «Wir tun so, als wären wir am Morgarten und müssten Baumstämme das Tobel hinabrollen, um die habsburgische Invasion abzuwehren.»
In der Schlacht am Morgarten schlugen die Eidgenossen ein habsburgisches Heer in die Flucht. Sie erkämpften sich damit eine gewisse Unabhängigkeit, weshalb die Schlacht in der traditionellen Geschichtsschreibung als erste Freiheitsschlacht der Schweiz gilt. Das war 1315.
Für gewöhnlich ist die «Arena» eine Politiksendung, die wenig Wissen über den Schweizer Gründungsmythos voraussetzt. Warum also dieses Tamtam um Rütli und Morgarten?
Schuld trägt dieser Papierwust:
Es ist das ausgedruckte Vertragspaket, das die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU updaten und absichern soll. Es wird oft auch «Bilaterale III» genannt. 2200 Seiten umfassen die Verträge, die der Bundesrat seit 2022 mit Brüssel ausgehandelt hat.
Über dieses Vertragspaket will Sandro Brotz mit seinen Gästen sprechen. Es sind dies neben SVP-Vizepräsident Matter und Binder-Keller, die in der Parteileitung der Mitte sitzt:
- Jon Pult, Nationalrat GR, Vizepräsident SP
- Damian Müller, Ständerat LU und Wahlkampfchef FDP
Drei Fragen möchte Sandro Brotz am Ende der Sendung beantwortet haben. Was bringen die Verträge mit der EU? Soll bei einer Abstimmung über die Bilateralen III das Ständemehr gelten? Und: Was geschieht mit der Personenfreizügigkeit?
Soll die Schweiz die Verträge unterschreiben?
Auf keinen Fall, findet Thomas Matter. Die Verträge mit der EU hält er für «die schlechtesten Verträge, die die Schweiz je ausgehandelt hat». Die Bilateralen III würden die Schweiz auf direktem Weg in die EU führen.
Früher hätten Verträge noch auf eine Seite gepasst, findet Matter:
Jon Pult hält dagegen: «Wir leben in einer immer gefährlicheren Welt. Staaten wie Russland, China und die USA setzen auf Unterwerfung.»
Als Pult dann auch noch darauf hinweist, dass das BIP der Schweiz um 4,9 Prozent zurückgehen würde ohne bilaterale Verträge, hat Matter genug gehört. Von einem Linken müsse er sich nicht die Wirtschaft erklären lassen, frotzelt der Privatbanker:
«Haben Sie eine einzige Seite des Vertrages gelesen?»
Ständemehr: mit oder ohne?
Eigentlich sind wir noch weit davon entfernt, über das Vertragspaket mit der EU abstimmen zu können. Bis Ende Oktober läuft noch die Vernehmlassung. Anschliessend werden sich National- und Ständerat über die Verträge beugen. Sollte das Parlament die Verträge annehmen und sollte das Referendum dagegen ergriffen werden, dann – und erst dann – käme es zur Abstimmung.
Trotzdem wird schon jetzt gestritten: Bräuchte es bei einer Abstimmung Volks- und Ständemehr? Oder reicht das einfache Volksmehr?
Die SVP ist der Meinung, die Verträge mit der EU hätten «verfassungsrechtlichen Charakter». Deshalb brauche es zwingend das obligatorische Referendum. In der Konsequenz würde das bedeuten: Es müssten keine Unterschriften gesammelt werden, damit die Schweizer Bevölkerung über die Verträge abstimmen kann. Und: Es bräuchte Volks- und Ständemehr.
Matter und die EU-Turbos
Anders sehen das der Bundesrat, SP, Grüne, Grünliberale und FDP. Sie wollen die Verträge als fakultatives Referendum behandeln – mit dem Effekt, dass 50'000 Unterschriften gesammelt werden müssten und dann das Volksmehr genügen würde, um die Verträge anzunehmen.
Kurz vor der «Arena»-Sendung hatte die Konferenz der Kantone informiert: Die Mehrheit der Kantone ist nicht der Ansicht, dass es ein Ständemehr braucht. Etwas, das Thomas Matter brutal ärgert: «Das hat eine Handvoll von EU-Turbos entschieden und ganz sicher nicht die Kantonsparlamente oder das Volk.»
Matter über EU-Turbos und Mannsgöggeli:
Thomas Matter wird immer ungehaltener. Er wirft den übrigen Teilnehmenden vor, die «schönsten Märchen» zu erzählen. Damian Müller zündet er an, er rattere da «seine auswendig gelernten Sprüchlein runter».
Seine eigenen Phrasen von «Unterwerfungsvertrag» über «schleichender EU-Beitritt» bis zu «fremde Richter» wirken auch nicht sehr spontan. Es sind die üblichen Gassenhauer der SVP-Hitparade.
Je länger die Sendung dauert, desto mehr wirkt Thomas Matter wie ein verhaltensauffälliger Schüler. Wobei die SVP solch neumodischen Bildungssprech nicht schätzt. Man könnte auch sagen: Thomas Matter wird mit Fortdauer der Sendung immer unflätiger. Und darum von Marianne Binder-Keller zurechtgewiesen:
Wie weiter mit der Personenfreizügigkeit?
Zum Schluss einer animierten, aber auch ausfransenden «Arena» hält Jon Pult ein Plädoyer für die Personenfreizügigkeit – sie sei die effizienteste und menschlichste Methode, einer überalterten Schweiz Fachkräfte zu garantieren:
Der doppelt glückliche Jon Pult:
Derweil befürchtet Thomas Matter, dass die neuen EU-Verträge Tür und Tor öffnen für Ausländerinnen und Ausländer, die in der Schweiz die Sozialsysteme belasten. «Und dafür bekommen sie erst noch ein Daueraufenthaltsrecht», sagt Matter.
Weil er sich in dem Punkt nicht einig wird mit Damian Müller, schliessen die beiden flugs eine Wette um einen Znacht ab:
Top, die Wette gilt! Wo Matter und Müller wohl essen gehen?
So endet die Schlacht zu den EU-Verträgen weder mit Rütlischwur noch Morgarten-Hellebarden. Sondern einem bürgerlichen Handschlag.
Es gibt in der Schweizer Geschichtsfolklore eine zweite bekannte Schlacht: diejenige zu Sempach im Jahr 1386. Erneut trug die Eidgenossenschaft den Sieg über die Habsburger davon. Die Sempacher Schlacht musste in der Vergangenheit schon als Symbol für eine wehrhafte Schweiz herhalten.
Die SVP wird sie bald auch im Kampf gegen die Bilateralen III einsetzen. Wetten?



