Freisinnige lassen Gegner der Bilateralen III alt aussehen
Die Gemütslage war eindeutig: Nach dem Ende der Delegiertenversammlung der FDP Schweiz im Berner Wankdorfstadion strahlte Patric Franzen, der Schweizer Chefunterhändler mit der Europäischen Union, wie der sprichwörtliche Maikäfer. Der EU-Showdown war für ihn und seinen Chef, Aussenminister Ignazio Cassis, ein Erfolg auf der ganzen Linie.
Ganz anders war die Gefühlslage bei Filippo Leutenegger, dem «Wortführer» der EU-Gegner. Der Zürcher Stadtrat und Präsident der Kantonalpartei sah aus, als ob man ihn gezwungen hätte, eine Flasche Lebertran auf ex zu trinken. Für ihn war das Treffen in Bern ein Debakel: Die FDP-Delegierten sagten sehr klar Ja zu den Bilateralen III und Nein zum Ständemehr.
Es war ein Votum, das man vor allem in diesem Ausmass kaum erwartet hatte. Für die NZZ handelte es sich um einen veritablen «Befreiungsschlag». Ein spezielles Lob gab es für den abtretenden FDP-Präsidenten Thierry Burkart. Er war mit seiner Strategie, die Delegierten zu einem derart frühen Zeitpunkt zu befragen, ins Risiko gegangen.
Rückenwind für Cassis
Nun sei ihm «ein Meisterwerk gelungen», kommentierte die NZZ. Das wirkt angesichts der Frustration der Vertragsgegner etwas euphorisch. Aber zumindest gab es keinen Zufallsentscheid. Vielmehr zeigte das Verdikt, dass die EU-Gegner nicht so stark sind, wie es ihre dominante Präsenz vor allem in den sozialen Netzwerken vermuten lässt.
Viele lassen sich dadurch beeindrucken, auch Medienschaffende, die häufig und faktenfrei behaupten, eine Institutionalisierung des bilateralen Wegs sei bei den Stimmberechtigten ohnehin chancenlos. Das Dreiviertel-Mehr am Samstag spricht eine andere Sprache. Es verschafft den Bilateralen III und damit dem Duo Cassis/Franzen Rückenwind.
Der Aussenminister
Ignazio Cassis musste in den letzten Jahren viel einstecken. Nachdem er mit dem unter seiner Ägide ausgehandelten Rahmenabkommen vor vier Jahren im Gesamtbundesrat Schiffbruch erlitten hatte, wirkte der Tessiner verzagt. Vom anfänglichen Elan war kaum etwas geblieben. Das neue Vertragspaket scheint Cassis revitalisiert zu haben.
Der Auftritt vor seiner Partei wurde zur Bewährungsprobe. Er bestand sie mit Bravour. «Unsere Möglichkeiten schwinden, um à la Carte am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen», warnte Cassis. Die von den Gegnern beklagte Bedrohung für die Souveränität der Schweiz wies er zurück: «Unsere direkte Demokratie bleibt erhalten.»
Fast schon genervt wirkte er, als er den Delegierten vorhielt, alle von ihnen 2022 formulierten Forderungen (etwa eine Schutzklausel bei der Zuwanderung) erfüllt zu haben: Seht ihr, ich habe geliefert! Die Botschaft kam bei den fast 500 Parteimitgliedern an. Sie sagten nicht nur klar Ja zu den Verträgen, sondern folgten Cassis auch beim von ihm bekämpften Ständemehr.
Das Ständemehr
Ein Doppel-Ja zu den Bilateralen III und zum Ständemehr wurde im Vorfeld der Versammlung vom Samstag als eine Art «Königsweg» angepriesen, um Befürworter und Gegner zu versöhnen. Selbst der Solothurner Nationalrat Simon Michel, der dezidierteste FDP-Unterstützer des Vertragspakets, sprach sich vor den Delegierten überraschend für das doppelte Mehr aus.
Doch das Ständemehr fiel durch, zum sichtlichen Ärger der Vertragsgegner. Der Nidwaldner Ständerat Hans Wicki meinte gegenüber der NZZ, die Abstimmung wäre wohl anders herausgekommen, wenn sie geheim erfolgt wäre. Es ist eine abenteuerliche Interpretation: Nach dem wuchtigen Ja zu den Verträgen zeichnete sich das Nein zum Ständemehr ab.
Das letzte Wort ist damit nicht gesprochen. Der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen will weiter für das Ständemehr kämpfen. Eine wichtige Rolle spielen die Kantone, die direkt betroffen sind. Sie präsentieren ihre Position zum Vertragspaket am nächsten Freitag. Erwartet wird, dass sie sich gegen das Ständemehr aussprechen werden.
Die Romandie
Die Delegierten aus der Westschweiz drückten der Europadebatte ihren Stempel auf. Sie haben ein immer grösseres Gewicht, auch weil die FDP in der Deutschschweiz ihre einstige Vormachtstellung weitgehend eingebüsst hat. Symptomatisch dafür war das Scheitern von Filippo Leutenegger, dem Präsidenten des ehemals so stolzen Zürcher Freisinns.
Auch beim Ständerat gaben die Romands den Ausschlag. Als Minderheit sind sie für dieses Thema besonders sensibilisiert, was auch die frühere Parteipräsidentin Petra Gössi anerkannte. Sie warb auf Französisch um Verständnis, dass sie sich dennoch für das Ständemehr engagierte. Bei den Westschweizer Delegierten stiess sie auf taube Ohren.
Das Präsidium
Das welsche Selbstbewusstsein zeigte sich in der allgemeinen Debatte, als ihre Vertreterinnen und Vertreter das Wort auffällig oft auf Deutsch ergriffen. Wer die Romands kennt, weiss, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Für die Freisinnigen und ihr neues Co-Präsidium mit Susanne Vincenz-Stauffacher und Benjamin Mühlemann könnte dies zum Problem werden.
Die St.Galler Nationalrätin und der Glarner Ständerat hatten im Interesse des Parteifriedens ein Ja zum Ständemehr propagiert und wurden von den Delegierten «desavouiert», bevor sie am Samstag überhaupt ins Amt gewählt wurden. Mühlemann hatte zudem im Gegensatz zu seiner Co-Präsidentin die Verträge abgelehnt und damit einen ziemlichen Fehlstart hingelegt.
Die Antrittsrede des Duos zeigte, dass viel Luft nach oben vorhanden ist. Das war vor bald zehn Jahren auch bei Petra Gössi der Fall, doch sie wuchs rasch in ihre Rolle hinein. Von Vincenz-Stauffacher und Mühlemann ist angesichts der Divergenzen im Freisinn, nicht nur in der Europafrage und beim «Röstigraben», ein ähnlicher Effort gefordert.


