Es sind Bilder wie im Bürgerkrieg: In vielen Provinzen Südafrikas sind ganze Strassenzüge verwüstet, Militärhubschrauber kreisen über den Städten, es patrouillieren Soldaten und Polizisten mit Maschinengewehren, bei Johannesburg steht ein Einkaufszentrum in Flammen. Immer wieder gibt es wütende Proteste mit hoher Gewaltbereitschaft und brennenden Barrikaden. Im Schatten der Ausschreitungen schlagen ganze Horden von Plünderern zu. Was nicht mitgenommen werden kann, wird zerstört. Es sind traurige Szenen der Verschwendung, besonders für ein Land, in dem so viele Menschen unter Armut leiden.
Bei den Gewaltexzessen kamen laut offiziellen Angaben der Sicherheitsbehörden bislang 72 Menschen ums Leben, viele weitere wurden verletzt, mindestens 1'200 wurden verhaftet. Die meisten Todesopfer waren Plünderer – sie wurden von anderen Plünderern tot getrampelt. Trotzdem scheint kein Ende der sinnlosen Zerstörung in Sicht, im Gegenteil: Der Flächenbrand erfasst immer mehr Provinzen in Südafrika, selbst die Mobilisierung des Militärs zeigt bislang kaum Wirkung.
Betroffen sind vor allem die nördliche Provinz Gauteng mit der Wirtschaftsmetropole Johannesburg und der Hauptstadt Pretoria sowie die östliche Provinz Kwazulu-Natal. In der dort besonders stark betroffenen Hafenstadt Durban teilte die Stadtverwaltung am Dienstag mit, dass es wegen der Proteste bei den städtischen Versorgungsdiensten – etwa der Wasserversorgung – Probleme geben könne.
Wie konnte es so weit kommen?
Die Wurzel der gegenwärtigen Anarchie im Land ist nicht die Verhaftung des Ex-Präsidenten Jacob Zuma, das Problem liegt tiefer. Es entladen sich aktuell die Wut und die Verzweiflung vieler Menschen – über die Korruption der Regierungen in den letzten Jahrzehnten und über die anhaltende Armut eines grossen Teils der Bevölkerung.
Die Proteste gegen die Inhaftierung Zumas vergangene Woche waren jedoch ohne Zweifel der entscheidende Funke. Der ehemalige Präsident war wegen Missachtung der Justiz zu einer Haftstrafe von 15 Monaten verurteilt worden, die er vor einer Woche antrat – der 79-Jährige stellte sich selbst am Wochenende der Polizei. Er muss sich vor einer Untersuchungskommission wegen verschiedener Korruptionsvorwürfe während seiner Amtszeit (2009-2018) verantworten, war aber einer Vorladung nicht gefolgt.
Mutmasslich nicht ohne Grund, denn die Kritik an Misswirtschaft und Korruption fand in Südafrika 2018 – zum Ende von Zumas Präsidentschaft – ihren Höhepunkt. Es gab immer wieder Berichte, dass sich führende Politiker und eine administrative Elite im Land Millionenbeträge in die eigenen Taschen steckten, auch der ehemalige Staatschef selber stand im Fokus.
Zuma liess sich nicht nur eine protzige Privatresidenz auf Staatskosten bauen, sondern wurde mit insgesamt 16 Anklagen wegen Betrugs, Bestechung und Erpressung konfrontiert, die sich auf den Kauf von Kampfjets, Patrouillenbooten und militärischer Ausrüstung von fünf europäischen Rüstungsfirmen im Jahr 1999 für 30 Milliarden Rand – damals umgerechnet fast 5 Milliarden Dollar – beziehen.
Anhänger, die an seine Unschuld glauben, hat er aber trotzdem noch. Immerhin hat er zwei Wahlen mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Sie traten die Proteste los. Schnell gesellten sich jedoch jene Südafrikaner dazu, deren Feindbild Zuma ist. Sie tragen aufgrund von Armut ihre Wut in die Geschäfte, um zu plündern.
Seine Partei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), hat inzwischen mit Zuma gebrochen. Sie regiert weiterhin, musste allerdings bei der letzten Wahl 2019 deutliche Verluste und das schlechteste Wahlergebnis seit dem Ende der Apartheid hinnehmen. Auf über 57 Prozent der Stimmen kam die ehemalige Partei von Nelson Mandela allerdings immer noch. Cyril Ramaphosa, der derzeitige Präsident des Landes, machte den Kampf gegen die Korruption zum zentralen politischen Ziel.
Im Kampf gegen ein anderes Problem, die soziale Ungleichheit im Land, war auch Ramaphosa bisher vor allem eines: erfolglos. Die Arbeitslosenquote im Land steigt weiter rasant an, schon vor der Corona-Krise lag sie bei über 28 Prozent. Die daraus resultierende Armut führt zu einer extrem hohen Kriminalitätsrate, Südafrika gilt als eines der gefährlichsten Länder der Welt. Das gilt nicht nur für Raubüberfälle, sondern auch für Morde und Vergewaltigungen. Hinzu kommt, dass Südafrika eine der höchsten HIV-Raten weltweit hat, über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung sind betroffen.
Dann kam im Jahr 2020 die Pandemie und traf das Land hart. Die Regierung reagierte zwar schnell mit einem Lockdown, aber das Virus war nicht aufzuhalten. Die schnelle Durchseuchung führte auch zu der Entwicklung der Beta-Variante im Land, gegen die der Impfstoff von Astrazeneca nur unzureichend schützte. Deshalb setzte die Regierung Impfungen mit dem Vakzin aus.
Die Folge ist, dass Südafrika Corona noch lange nicht besiegt hat. Die Inzidenz liegt momentan bei 216,5, gerade einmal 2.3 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Im Schatten des gegenwärtigen Chaos lauert demnach schon wieder die nächste pandemische Katastrophe, mit Folgen für den ganzen Kontinent.
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Frustration über die Missstände im Land brach in den vergangenen Tagen plötzlich eine Art kollektiver Plünderrausch aus. Die Proteste haben sich längst verselbstständigt und eine neue Dynamik entfaltet.
«Das wirkt wie ein Schlussverkauf kurz nach Weihnachten», sagte ein Reporter, der mit Polizisten ganze Menschenscharen beim Plündern beobachtete. Weggetragen wurde alles, was sich irgendwie mitnehmen liess. Augenzeugen berichteten vor laufender Kamera über Menschen, die mit Mittelklassewagen vorfuhren und Kühlschränke, Betten, Kleider oder Schuhe wegschafften. Selbst das Bild eines jungen Plünderers mit einem Dildo in der Hand machte die Runde in den sozialen Medien.
Die Ordnungshüter mussten angesichts der Masse an Plünderern machtlos zusehen oder vor Steinewerfern in Deckung gehen. Im Internet organisierten sich – etwa in Durban – Nachbarschaftshilfen, um ein Überschwappen der Anarchie in die Wohngebiete zu verhindern.
Die Polizei, die Regierung, das Militär – alle wirken dagegen hilflos. Soldaten sollen zwar patrouillieren, sichern aber zunächst kritische Infrastruktur wie Krankenhäuser oder Flughäfen. Bei den schnell aufflammenden Brandherden in den Provinzen sind sie zu langsam vor Ort. Auch die Polizei schreitet oft zu spät oder gar nicht ein.
Präsident Ramaphosa gehen die Ideen aus. Er versucht es mit Appellen, Warnungen, gesteht den Demonstranten das Recht auf friedlichen Protest zu. Doch die schockierende Gewalt auf den Strassen verurteilt er deutlich: «Gewalttaten, wie man sie seit Beginn der südafrikanischen Demokratie noch nicht gesehen hat», sagte er in einer TV-Ansprache am Montag. Während seiner Rede wurden Live-Bilder aus einem Einkaufszentrum in Durban eingespielt, in dem Menschen ungehindert mit Körben und anderen Behältern zum Plündern schlenderten. «Das sind nicht wir», sagte ein ernst dreinblickender Präsident.
Dass Ramaphosa die Kontrolle über die Lage verloren hat, macht unklar, wohin sich die gegenwärtige Situation entwickelt – und diese dadurch umso gefährlicher. Der Präsident steht vor der unlösbaren Aufgabe, gleichzeitig die Corona-Infektionszahlen, die Armut, die steigenden Arbeitslosenzahlen sowie die Korruption in der eigenen Partei und der Regierung zu bekämpfen. Die Inhaftierung Zumas galt für Letzteres als Meilenstein, aber was für die südafrikanische Demokratie ein grosser Schritt vorwärts sein sollte, führte zur exzessiven Gewalt.
Die Eskalation zeigt, dass auch eine Freilassung Zumas das Feuer nicht löschen würde. Die Probleme Südafrikas liegen vor allem in der Armut und der Perspektivlosigkeit eines grossen Teils der Bevölkerung. Demnach hat der Präsident nur teilweise recht, wenn er mit Blick auf die Plünderungen sagt, dass das «nicht wir sind». Denn das gegenwärtige Chaos ist der Spiegel der vielen gesellschaftlichen Probleme, des Erbes der Apartheid.
Verwendete Quellen:
Ich liebe Südafrika und habe Freunde dort, und es tut mir weh für Südafrika und die vielen fantastischen Menschen dort.
N'kosi Sikeli Africa !!!