Am 5. Juni beschreibt eine 23-jährige koreanische Lehrerin in ihrem Tagebuch, wie ihr Körper von Angst überfallen werde, wenn sie den Klassenraum betrete.
Am 3. Juli schreibt sie, dass sie von der Hektik ihrer Arbeit so überfordert sei, dass sie «loslassen» wolle.
Zwei Wochen später wird die junge Frau von ihren Kollegen tot im Klassenraumschrank gefunden. Sie hat sich das Leben genommen.
Der Fall schlug Wellen und entfachte neue Diskussionen über ein altbekanntes Problem: Mobbing. Davon betroffen sind nicht nur die koreanischen Schulkinder, sondern auch die Lehrpersonen. Konkret leiden letztere unter einem 2014 verabschiedeten Kinderschutzgesetz, das es ihnen praktisch verunmöglicht, gegen ungehorsame Kinder Massnahmen zu ergreifen. Die Richtlinien des Gesetzes sind nämlich so vage, dass viele Eltern und Schüler es ausnützen, um Lehrpersonen Missbrauch vorzuwerfen.
So hätten harmlose Handlungen wie ein nicht ausreichendes Lächeln der Lehrperson schon zu Klagen wegen Kindesmissbrauch geführt, berichtet The Diplomat und beruft sich dabei auf die koreanische Tageszeitung «Chosun Ilbo». Halte eine Lehrperson die Gliedmassen eines Kindes zurück, weil es Waffen gegen Mitschüler einsetzen oder diese mit Gegenständen bewerfen wolle, dann führe dies zu Anzeigen wegen körperlicher Misshandlung.
Eine Analyse der koreanischen Lehrer- und Bildungsgewerkschaft im letzten Jahr ergab, dass sich mit 61 Prozent die meisten Meldungen zu Kindesmissbrauch auf «emotionalen Missbrauch» bezogen. Weiter führte die Gewerkschaft mit 6243 Lehrpersonen eine Umfrage durch. Dabei gaben 60 Prozent von ihnen an, dass entweder sie persönlich wegen Kindesmissbrauchs angezeigt worden seien oder sie eine andere Lehrperson kennen, der dies passiert sei. 9 von 10 Lehrpersonen (92,9 Prozent) fürchteten sich gemäss der Umfrage davor, selbst des Kindesmissbrauchs verdächtigt und angezeigt zu werden.
So drohen Schüler immer wieder damit, Lehrpersonen anzuzeigen, wenn sie sich durch Ermahnungen falscher Verhaltensweisen in ihren Gefühlen verletzt fühlen. Hinzu kommt laut einigen der befragten Lehrpersonen noch, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung nicht befolgt würde. Dies habe zur Folge, dass Lehrpersonen teilweise suspendiert würden, ohne dass die Meldung des Kindesmissbrauchs überhaupt überprüft worden sei.
Dies alles schafft ein Klima der Angst, bei dem die Lehrpersonen sich kaum mehr trauen, den Kindern irgendetwas zu sagen. Und das in einer Zeit, in der das Mobbing unter Schulkindern zu eskalieren scheint.
Wie The Guardian berichtet, hätten Zahlen der Regierung gezeigt, dass die Fälle von Gewalt und Mobbing an Schulen in den letzten 10 Jahren stark zugenommen haben. Keumjoo Kwak, Psychologieprofessorin an der Seoul National University, erklärt gegenüber der britischen Tageszeitung, dass diese Fälle «die Dynamik der kollektivistischen Gesellschaft widerspiegeln», in der Gruppendruck «eine wichtige Rolle bei der Verhaltensgestaltung» spiele. Die Schulkinder seien einem extremen akademischen Druck ausgesetzt, wobei sich alles auf die Aufnahmeprüfungen an Universitäten konzentriere. Dadurch entstehe ein stark «wettbewerbsorientiertes, hierarchisches und eintöniges Umfeld», in dem es an körperlichen Aktivitäten fehle. Viele Schulkinder schikanierten andere deshalb aus purem Spass oder um so Druck abzulassen.
Der Regierung ist das Mobbing-Problem schon seit Längerem bekannt. Im Versuch, das Problem im Keim zu ersticken, verabschiedete sie im April laut The Korea Herald verstärkte Massnahmen: Mobbing-Akten von Schülerinnen und Schülern sollen künftig bei Bewerbungen um Studienplätze berücksichtigt werden. Da Änderungen der Zulassungskriterien an Universitäten zwei Jahre im Voraus bekannt gegeben werden müssen, greift die neue Massnahme erst ab 2026. Gleichzeitig wurde die Aufbewahrungsfrist von Mobbing-Aufzeichnungen neu von zwei auf vier Jahre verlängert.
Sollte diese Massnahme die Lage auch für die Lehrpersonen beruhigen, führte sie teilweise zum Gegenteil: Beunruhigt wegen der Zukunft ihrer Kinder, üben einige Eltern nun Druck auf die Lehrpersonen aus, damit diese Einträge in den Mobbing-Akten ausradieren oder gar nicht erst eintragen.
Der Suizid der jungen Lehrerin hat das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Seit der Bekanntgabe ihres Falls werden in Südkorea jedes Wochenende Proteste abgehalten. Bei einer Kundgebung am vergangenen Samstag in der Nähe des südkoreanischen Parlaments nahmen über 200'000 Lehrpersonen teil.
Yesterday, around 200,000 teachers from across South Korea gathered in front of the National Assembly in Seoul dressed in black to commemorate the recent deaths of young teachers and to call for better protection of their rights. pic.twitter.com/UUmrE8fmFi
— Raphael Rashid (@koryodynasty) September 3, 2023
Am Montag gingen geschätzt 50'000 Lehrpersonen noch einen Schritt weiter und streikten, um der verstorbenen Lehrerin zu gedenken. Dies, obwohl Bildungsminister Lee Ju-ho die geplante Aktion schon über eine Woche im Vorfeld als illegal bezeichnete und mit rechtlichen Konsequenzen drohte, wie die südkoreanische Nachrichtenagentur berichtete.
Teachers participate in a rally in front of the National Assembly in #Seoul, South Korea. The rally was held to mourn the recent suicide deaths of fellow teachers distressed by disgruntled parents & unruly students.
— Getty Images News (@GettyImagesNews) September 4, 2023
More #GettyFootage 🎥 Chung Sung-Jun ➡️ https://t.co/yfjj4UadR7 pic.twitter.com/aMauhEKIqx
Einen Tag vor dem Streik schlug er allerdings sanftere Töne an und räumte Mängel im Schulsystem ein:
Er versprach Besserung:
Und spätestens wo es einen Druck zur Aussetzung der Unschuldsvermutung gibt müssen die Alarmglocken schrillen.
Wir erziehen unsere Kinder so, dass Lehrer Respektspersonen sind.
Bis jetzt hatten wir noch nie Probleme, und die Lehrer setzen sich auch für unsere Kinder ein, wenn diese Hilfe brauchen.