Als um acht Uhr abends die ersten Umfragen vom Wahltag verkündet wurden, sprang man im blauen Lager jubelnd auf, während die Roten still sitzenblieben. Mehr als 50 Prozent des Wahlvolks hatte demnach ihre Stimme Lee Jae-myung gegeben, dem Kandidaten der liberalen Demokratischen Partei (DP), die in Südkorea in Blau auftritt. Der Abstand zu Kim Moon-soo, der für die bis dahin regierende konservative People's Power Party (PPP) angetreten war, betrug mehr als 12 Prozentpunkte.
Der neue Präsident Südkoreas heisst also Lee Jae-myung – jener Mann, der vor drei Jahren nur hauchdünn gegen PPP-Rechtspopulisten Yoon Suk-yeol unterlegen war, der das ostasiatische Land dann wiederum in eine Staatskrise stürzte. Am 3. Dezember 2024 hatte Yoon, der bis dato autoritär anmutend regiert hatte, plötzlich das Kriegsrecht ausgerufen. Das Vorhaben scheiterte vor allem am Widerstand von DP-Abgeordneten, die am späten Abend das abgeriegelte Parlament stürmten und dagegen stimmten.
Seitdem hat Südkorea – das erst ab 1987 von einer Militärdiktatur zu einer Demokratie aufstieg – wacklige Monate durchlebt. Gegen Yoon Suk-yeol, der seinen Schritt mit einer Unterwanderung durch das verfeindete Nordkorea begründete, dies aber bis heute nicht beweisen konnte, läuft ein Strafverfahren. Während das Land ein Urteil erwartet, musste es nunmehr ein halbes Jahr lang auf eine neue Regierung warten.
Am Wahltag gab sich Lee als der Beschützer der Demokratie vor den «Putschkräften.» Lee hatte schliesslich am Abend der Kriegsrechtserklärung grossen Anteil daran, dass Yoons Plan scheiterte. Inwieweit die Wahl am Dienstag aber den Erhalt der Demokratie tatsächlich sichert, daran bestehen offenbar Zweifel: Die Polizei ist in Alarmbereitschaft. Lee, der Anfang vergangenen Jahres ein Messerattentat überlebte, trat immer wieder in kugelsicherer Weste und hinter Schutzscheiben auf. Die Lage ist höchst angespannt.
Dass mit Lee Jae-myung nun ein sonderlich beliebter Kandidat gesiegt hätte, lässt sich ebenso wenig behaupten. Denn selbst wenn er rund die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinte – was angesichts einer Handvoll Kandidaten locker zum Sieg reichte -, konnte die zweitplatzierte PPP immerhin um die 40 Prozent erringen. Dass diese PPP trotz Yoons Putschversuch noch immer so viele Stimmen erhält, gilt als Zeichen der Unbeliebtheit von Lee.
Hinzu kommt: Er hat mehrere Verfahren gegen sich anhängig, darunter eines um mögliche Falschaussagen im letzten Wahlkampf. Auch hier erwartet Südkorea ein Urteil. Im Fall eines Schuldspruchs müsste Lee das Präsidentenamt wohl wieder räumen.
So sind viele Wählerinnen noch am Wahltag unentschlossen gewesen. Lee Eun-jeong zum Beispiel, eine Gastronomin aus Seoul, die sonst immer Rotwählt, sagte am Dienstag: «Ich weiss nicht, wem ich meine Stimme geben soll.» In der Opposition wird sich die PPP jedenfalls neu erfinden müssen, womöglich gar aufspalten, denn das Lager um den amtsenthobenen Ex-Präsident Yoon Suk-yeol scheint mit anderen Kräften in der Partei nur noch schwer vereinbar zu sein.
Dem neuen Präsidenten Lee Jae-myung stehen seinerseits grosse Konflikte ins Haus, vor allem aussenpolitisch. Lee hat angekündigt, der konfrontativen Politik seines Vorgängers Yoon gegenüber Nordkorea ein Ende zu bereiten und erneut Gespräche mit dem verfeindeten Bruderstaat zu suchen.
In der PPP wird dies gerade jetzt, da Nordkoreas Diktator Kim Jong-un gute Beziehungen zu Russland etabliert hat, als gewaltiger Irrtum kritisiert. Lee Jae-myung wiederum will nicht nur mit Pjöngjang die Beziehungen verbessern, sondern auch mit Moskau und Peking. Das wiederum werden die USA unter Donald Trump, insbesondere im Fall von China, keineswegs goutieren. (nib/aargauerzeitung.ch)