Der Ukraine-Krieg war noch keine paar Stunden alt, da tauchten schon die ersten verwackelten Handy-Videos auf Tiktok auf. Der populäre Social-Media-Dienst ist mittlerweile voll von verstörenden, kuriosen und teilweise auch berührenden Kriegsmomenten - und eine der wichtigsten Quellen für traditionelle Medien wie Print und Fernsehen.
Man sieht Frauen, die sich aus Solidarität mit der Ukraine die Haare gelb und blau färben. Ukrainische Bürger, die sich mutig vor russische Panzer stellen und Lieder singen. Und Jagdflugzeuge, die Wohnhäuser unter Beschuss nehmen.
Vieles von dem lässt sich nicht verifizieren, in die Bilderflut mischen sich Propaganda und Fakes. Wie zum Beispiel das ein Jahr alte Video, in dem eine Automechanikerin erklärt, wie man einen russischen Panzer fährt.
Es ist nicht der erste «Social-Media-Krieg». Twitter und Facebook spielten beim 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Syrien eine entscheidende Rolle; Berichte über den Einsatz von Giftgas wurden zuerst in sozialen Medien verbreitet. Doch die zusammengeschnittenen, mit Musik und Emojis unterlegten Tiktok-Clips sind von ganz anderer Qualität und Machart als die ungefilterten Facebook-Livestreams.
Sie sind lärmiger, emotionaler, subjektiver - und haben in ihrer cinematographisch anmutenden Dramaturgie fast schon den Charakter eines Mini-Blockbusters. Die Kommentatoren sprechen bereits vom «ersten Tiktok-Krieg»; das Technik-Magazin «Wired» schrieb, dass Tiktok mit seiner algorithmischen Mechanik «für den Krieg designt» worden sei.
Jeder Krieg hat sein Medium. Der amerikanische Bürgerkrieg gebar die Kriegsfotografie. Im Zweiten Weltkrieg schlug die Stunde des Radios und Kinos. Und der Vietnam-Krieg gilt als erster Fernsehkrieg der Geschichte. Anders als im Korea-Krieg, wo eine strikte Zensur galt, konnten die Reporter relativ frei von der Front berichten und den Schrecken live in die Wohnzimmer der Amerikaner senden.
Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat das Fernsehen mal als «kaltes Medium» bezeichnet. Im Gegensatz zu «heissen Medien» wie Film oder Zeitung vermitteln kalte Medien wenig Informationen - und verlangen daher ein höheres Engagement beim Zuschauer. Die Auflösung beim Fernsehapparat ist geringer, beim Telefon fehlt jegliches Bild. Der Empfänger ergänzt daher die fehlenden Informationen. Manche Kommentatoren spannen McLuhans These fort und argumentierten, dass kalte Medien Woodstock und die Vietnam-Proteste erst ermöglicht hätten.
In den 1960ern, als der Vietnam-Krieg besonders heftig tobte, hatten viele Haushalte noch einen Schwarz-Weiss-Fernseher, und bis in allen Wohnstuben ein Farbfernseher stand, sollten noch ein paar Jahre vergehen.
Mit der voranschreitenden Bild- und Kameratechnik veränderte sich auch die mediale Inszenierung von Kriegen. Als die USA 1991 mit Bodentruppen im Irak einmarschieren, ist der Nachrichtensender CNN rund um die Uhr auf Sendung. Hastige Live-Schalten wechseln sich mit Live-Aufnahmen aus der Wüste und effekthascherischen Erklärvideos über Waffensysteme ab. Der Krieg als Katastrophenfilm.
Der französische Soziologe Jean Baudrillard schrieb in seinem Essayband «The Gulf War Did Not Take Place» (1991), dass die Fernsehbilder die «Illusion des Krieges» erzeugen würden. Das Medium mache die Wirklichkeit «virtuell». Die Bilder von Nachtsichtgeräten oder Livestreams von zielgenauen Raketeneinschlägen, die man auf seinem Bildschirm sehe, seien letztlich nur die Computersimulation einer elektronischen Kriegsführung; der Krieg selbst, so Baudrillard, finde gar nicht statt, er sei «irreal».
Mit diesem postmodernen Spin wäre man vor ein paar Jahren noch in Verdacht geraten, die Realität zu leugnen und Faktenverdrehern ein ideologisches Fundament zu liefern (siehe auch die Debatte zur Postmoderne und Trump). Doch jetzt, wo auf Tiktok Aufnahmen aus dem Computer-Militärsimulationsspiel «Arma 3» als «Filmmaterial» aus dem Ukraine-Krieg viral gehen, scheint auch der scharfsinnigste Beobachter nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden zu können. Die Hyperrealität ist perfekt.
Als die Bilder des ersten Golfkriegs um die Welt gingen, war das World Wide Web gerade ein paar Wochen alt. Tim Berners-Lee hatte am 20. Dezember 1990 im Cern die erste Website online gestellt. Doch ausser ein paar versprengten Hochschul- und Firmenrechnern war damals kaum jemand ans Internet angeschlossen. Das änderte sich in den 1990er-Jahren, als man von «Datenautobahnen» sprach und sich mit dem schrillen Geräusch des Modems ins World Wide Web einwählte. Und damit wurden auch die Derealisierungseffekte verschärft, von denen Baudrillard in seinen Werken schrieb.
Der Kosovo-Krieg 1999 gilt als erster «Internet-Krieg» der Geschichte - der militärische Konflikt dehnte sich auch auf den virtuellen Raum aus. Serben und Kosovo-Albaner nutzten die Anonymität des Cyberspace, um ihre Propaganda zu verbreiten. Die Websites der Nato wurde von Hackern aus Belgrad attackiert. Die «Los Angeles Times» schrieb damals: «So wie das Fernsehen den Vietnam-Krieg in die Wohnzimmer von Amerika trug, hat das Internet diese überraschend intime Sicht des Konflikts zu Computernutzern gebracht - aber eine, die wahr sein könnte oder auch nicht.» Egal, über welches Medium Bilder verbreitet werden - eines hat sich über die Jahre nicht verändert: Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst. (aargauerzeitung.ch)
Oder wie war das nochmals?
Und dass man auf einer Plattform, die China gehört, über den Krieg gegen ein freies Land berichtet und sich für die Freiheit einsetzt grenzt auch an ironie. Ausser China will so schon mal filtern, wer im Socialcreditscore mit weniger Punkten startet. 🙄