Während ukrainische Truppen mit bis zu 500 Soldaten versuchen, in der Nähe von Belgorod die Grenze zu Russland bei Shebekino und Nekhoteewka zu übertreten, um zusätzliche russische Gebiete unter Kontrolle zu bringen, spitzt sich die Lage 230 Kilometer südlich weiter zu.
Dort nähern sich russische Truppen langsam, aber stetig der Industriestadt Pokrowsk. Seit Tagen werden von dort Zivilisten mit Extrazügen in Richtung Westen evakuiert – weg von der Front. Viele der einst 65’000 Einwohner sind schon geflohen.
Bleiben will Ljubow, wie sie gegenüber dem SRF-Korrespondenten David Nauer versichert: «Wir hoffen darauf, dass unsere Jungs diese Hunde aufhalten und nicht bis zu uns durchlassen.» Sollte es trotzdem so weit kommen, will auch sie weg: «Ich werde nicht unter ihnen [Russen] leben. Ich bin Ukrainerin. Ich will in der Ukraine leben.»
Viel Anlass zur Hoffnung gibt es nicht. Pokrowsk ist ein strategisch wichtiger Strassen- und Eisenbahnverkehrsknotenpunkt. Wie Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheeres gegenüber dem ZDF erklärt, versorgt die ukrainische Armee von hier aus verschiedene Frontabschnitte. Die Ukraine wird deshalb nicht bereit sein, die Stadt aufzugeben. Seit Tagen werden mit Hilfe ansässiger Kumpel Gräben um die Stadt ausgehoben. Die NZZ titelt nervös: «Fällt Pokrowsk, könnten die Verteidigungslinien auf breiter Basis einbrechen». Und Russland? Russland wird nichts unversucht lassen, die Stadt einzunehmen. Es ist, laut ZDF-Analysten, «mit einer langen und blutigen Belagerung zu rechnen».
Daran, dass dabei die Infrastruktur der Stadt enorm in Mitleidenschaft gezogen werden wird, zweifelt indes niemand mehr. Russland hat seit seinem Einmarsch eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. Deshalb wird erwartet, dass auch die einst so wichtige Industriestadt ein ähnliches Schicksal erfahren wird wie einst Mariupol, Sjewjerodonezk und Bachmut.
Von diesen drei Städten hat Tagesspiegel.de in Zusammenarbeit mit russischen Exiljournalisten Satellitenbilder und -daten ausgewertet und so den Grad der Zerstörung berechnet. In Mariupol wurden rund 36’000 Gebäude beschädigt. Das entspricht 36 Prozent aller Bauten.
Wie die Autoren betonen, handelt es sich dabei um eine konservative und vorsichtige Berechnungsmethode. Die UNO geht von 90 Prozent zerstörter mehrstöckiger Gebäude aus. Bei den kleineren Wohnhäusern sollen 60 Prozent unbewohnbar sein.
Auch in Sjewjerodonezk wurden 36 Prozent der Gebäude sichtbar in Mitleidenschaft gezogen, in Bachmut sind es gar 66 Prozent.
Düstere Aussichten für Pokrowsk. Im örtlichen Spital befindet sich laut dem ZDF die einzige Einrichtung für die Betreuung von Babys und Frühchen im Donbass. Die schwangeren Frauen dürften indes bereits geflohen sein.
Die Ukraine braucht immer noch alle Mittel, um diese Kriegsverbrecher aufzuhalten und zu besiegen. Und zwar jetzt!