Die ukrainische Hafenstadt Mariupol ist seit Kriegsbeginn ein Epizentum russischer Grausamkeiten im Ukraine-Krieg. Die Unerbittlichkeit, mit der Putins Truppen gegen die ehemalige 450'000-Einwohner-Stadt vorgehen, hat auch mit ihrer strategischen Bedeutung zu tun: Sie liegt an einer zentralen Achse auf der von Russland angestrebten «Landbrücke» zwischen der annektierten Halbinsel Krim und den prorussischen Separatistengebieten im Donbass – und damit zur Russischen Föderation.
Obwohl Mariupol seit Wochen unter Belagerung und heftigem Beschuss steht, befinden sich laut ukrainischen Angaben immer noch 100'000 Zivilisten dort. Die menschlichen Verluste sind hoch. Hilfskorridore scheiterten oder wurden sabotiert. Es fehlt an Essen, Wasser, Strom. Die humanitäre Krise in der Stadt verschärft sich immer weiter.
Doch die Grausamkeiten scheinen kein Ende zu haben: Nun sind Satellitenbilder aufgetaucht, die ein Massengrab in dem 20 Kilometer von Mariupol entfernten Dorf Manhusch zeigen sollen. Nach Angaben der Stadtverwaltung Mariupols sollen dort zwischen 3000 und 9000 tote Bewohner begraben worden sein.
Ukrainische Medien berichten über die mutmasslichen Massengräber seit Donnerstag. Sie beziehen sich auf Satellitenbilder der US-amerikanischen Firma Maxar. Auf den Bildern ist eine Fläche mit Erdhügeln zu sehen. Die Fläche der Gräber soll in etwa eine Länge von 300 Metern umfassen und in der Nähe eines Friedhofs liegen.
Laut dem Bürgermeister Mariupols, Wadym Bojtschenko, seien in den jüngsten Tagen Leichen von den Strassen und aus der Stadt verschwunden. Diese seien abtransportiert und mit Lastwagen nach Manhusch gefahren worden. Bojtschenko wandte sich auf Facebook an die Welt: «Wir müssen diesen Völkermord stoppen, mit allen Mitteln, die möglich sind.»
Die mutmasslichen Massengräber wären der vorläufige Höhepunkt russischer Gräueltaten in der einst blühenden Hafenstadt im Süden des Landes. Was der Ort und seine Bewohner bisher an Brutalität erleiden mussten, ist für die meisten unvorstellbar. Die Liste der Verbrechen der Russen in Mariupol ist lang.
Unmittelbar mit Kriegsbeginn startet auch der russische Vormarsch auf die Hafenstadt Mariupol. Zunächst versucht die russische Armee, mit Panzertruppen auf die Stadt vorzurücken. Die Angriffe können jedoch zunächst erfolgreich von der ukrainischen Armee zurückgeschlagen werden. An der Verteidigung der Stadt ebenfalls beteiligt: das umstrittene Asow-Regiment, dem teils eine ultranationalistische und rechtsextreme Gesinnung vorgeworfen wird.
Ab Anfang März wird die Stadt zunehmend zu einem der am schwersten umkämpften Gebiete in der Ukraine. Russische Truppen kesseln Mariupol ein. Wasser, Heizung und Strom fallen aus. Bedingt durch den andauernden und wahllosen Artilleriebeschuss ist es den Ukrainern auch nicht möglich, die Versorgung für die Menschen wiederherzustellen.
Die humanitäre Situation verschlechtert sich zunehmend. Nach einem Bericht der Organisation «Ärzte ohne Grenzen» ist es bereits ab 5. März schwierig, Nahrungsmittel oder Medikamente aufzutreiben.
Internationale Aufmerksamkeit erregt der russische Angriff auf eine Kinder- und Geburtsklinik in der Stadt. Drei Menschen, darunter ein Kind, sterben bei dem Angriff. Russland behauptet zunächst, die Klinik sei nicht mehr in Betrieb gewesen und als Stützpunkt der ukrainischen Armee genutzt worden. Bilder und Videos belegen jedoch das Gegenteil. Die Ukrainer und die EU verurteilen den Angriff als Kriegsverbrechen .
Ein weiterer trauriger Höhepunkt im Kampf um die Stadt. Bei Luftangriffen wird das Theater im Zentrum Mariupols zerstört. Nach ukrainischen Angaben hatten sich im Keller des Gebäudes rund 1'000 Zivilisten – darunter viele Frauen und Kinder – in Sicherheit gebracht. 300 von ihnen sollen nach ukrainischen Schätzungen ums Leben gekommen sein. Überlebende, die nach dem Angriff in Schutzräumen eingeschlossen waren, können erst nach mehreren Tagen gerettet werden. Russland leugnet, auch für diesen Angriff verantwortlich zu sein.
Versuche, Zivilisten aus der Stadt zu evakuieren, scheitern immer wieder. Der Grund: Verabredete Feuerpausen werden nicht eingehalten. Die Kriegsparteien machen sich dafür erneut gegenseitig verantwortlich. Mitte März gelingen die ersten erfolgreichen Evakuierungen über einen Fluchtkorridor. Tausende Zivilisten machen sich in mit weissen Bändern markierten Autos auf den Weg, um die Stadt zu verlassen. Zu genauen Zahlen gibt es erneut unterschiedliche Angaben. Die russische Seite behauptet am 17. März, dass bereits 43'000 Menschen aus der Stadt geflohen seien. Die Ukraine spricht von lediglich 2'000 Geflüchteten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äussert sich zu der Situation in Mariupol. Dabei wirft er den russischen Einheiten vor, den humanitären Zugang zur Stadt zu blockieren. Ziel Russlands sei es, dadurch «Tausende Opfer zu verschleiern». Währenddessen spricht der von prorussischen Kräften eingesetzte neue Bürgermeister Mariupols, Konstantin Iwaschtschenko, von circa 5'000 getöteten Zivilisten.
«Heute wird wahrscheinlich die letzte Schlacht sein, da die Munition zur Neige geht», schreibt die Marinebrigade der ukrainischen Streitkräfte auf Facebook. Die russische Armee habe die ukrainischen Kämpfer umzingelt. Nur wenige Stunden später widerspricht der stellvertretende Bürgermeister Serhij Olow dem aber vehement. «Die Russen haben vorübergehend einen Teil der Stadt besetzt.» Dennoch würden ukrainische Soldaten die zentralen und südlichen Teile der Stadt verteidigen, so Orlow. Den Facebook-Post bezeichnete er als falsch.
Der Verfasser des Textes ist unbekannt. Jedoch sei es laut der Zeitung «Ukrajinska Prawda» erwähnenswert, dass der Post auf Russisch verfasst wurde. Derweil geben die prorussischen Separatisten bekannt, der Hafen sei unter ihrer Kontrolle.
Das Ringen um die Deutungshoheit setzt sich fort. Das russische Verteidigungsministerium gibt die Kapitulation von mehr als 1'000 ukrainischen Soldaten bekannt. Die ukrainische Armee widerspricht dem: Die Kämpfe würden fortgesetzt.
Das Stahlwerk in der Hafenstadt ist weiterhin in ukrainischer Hand. Jedoch veröffentlichen die ukrainischen Soldaten einen dramatischen Hilfsappell an «alle Anführer der Welt». In einem Facebook-Video fleht der Kommandeur Serhij Wolyna darum, die Soldaten aus Mariupol herauszuholen und in einem «Drittstaat» unterzubringen.
Er verdeutlicht die scheinbar aussichtslose Situation: «Der Feind ist uns in einem Verhältnis von 10:1 überlegen.» Wenn ihnen nicht schnell geholfen werde, sähen die ukrainischen Truppen ihren «letzten Tagen, wenn nicht Stunden entgegen». Neben den Streitkräften haben auch um die 1'000 Zivilisten im Stahlwerk Zuflucht gefunden.
Russlands Präsident Wladimir Putin feiert die «Befreiung Mariupols». Putin räumt aber auch ein, dass das Stahlwerk noch immer nicht unter russischer Kontrolle sei. Dieses soll aber weiterhin von russischen Einheiten belagert werden. «Blockiert es so, dass keine Fliege mehr durchkommt», so der Kremlchef. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu spricht davon, dass auch die Fabrik in «drei bis vier Tagen» eingenommen sei. Die eingeschlossenen Ukrainer sollen zur Aufgabe gezwungen werden, eine Erstürmung sei nicht sinnvoll.
Am Freitag wird der bisherige traurige Höhepunkt der Schreckens-Chronik von Mariupol bekannt. Satellitenbilder zeigen Massengräber in einem Dorf 20 Kilometer westlich von der Hafenstadt. Der Bürgermeister Mariupols, Wadym Bojtschenko, schätzt die Todeszahl in Mariupol seit Kriegsbeginn auf mindestens 20'000 Menschen.
Die ukrainischen Behörden haben nach mehreren gescheiterten Versuchen das Zustandekommen eines Fluchtkorridors bestätigt. «Die Evakuierung aus dem okkupierten Mariupol beginnt um 11.00 Uhr vom Einkaufszentrum »Port-City« aus», teilte der ukrainische Stadtrat von Mariupol auf seinem Telegram-Kanal mit. Die Busse in die von der Ukraine kontrollierte Grossstadt Saporischschja seien für Frauen, Kinder und Alte gedacht.
Verwendete Quellen:
((Mey,Kgl ))