Die ukrainischen Truppen konnten in der vergangenen Woche grosse Gebiete im Osten des Landes zurückerobern. Die russischen Soldaten zogen sich teilweise überstürzt zurück. Nebst den strategisch wichtigen Ortschaften Balaklija, Kupjansk oder Sjwatohirsk nahmen die Ukrainer auch die grössere Stadt Isjum ein, von wo aus die Russen ihre Militäroperationen in der Region vorher koordinierten.
Am Donnerstagabend erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft, dass bei Isjum ein Massengrab mit 440 Leichen gefunden worden sei.
Am Freitag stellten die ukrainischen Ermittler richtig, dass es sich nicht um ein Massengrab, sondern um zahlreiche einzelne Gräber handelt. «Ich möchte das nicht Butscha nennen – hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt», sagte Oleh Kotenko, Ermittler eines ukrainischen Sonderkommandos, dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja.
Isjum liegt 125 Kilometer südöstlich von Charkiw. Nochmals etwa so weit entfernt im Süden liegt Donezk. Die über 400 Leichen wurden in einem Wald ausserhalb der Kleinstadt gefunden, die vor dem Krieg ungefähr 50'000 Einwohner hatte. Die Stadt war während mehr als fünf Monaten unter russischer Kontrolle. In der Nähe von Isjum sind auch die grösseren Städte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, die im Sommer als letzte ukrainische Bastionen in der Oblast Luhansk von den Russen erobert wurden.
Noch sind die Menschen nicht identifiziert, die in den behelfsmässigen Gräbern im Wald beerdigt wurden. Laut Wolodymyr Selenskyj nehmen die ukrainischen Ermittler am Freitag die Ausgrabung und Identifikation der Leichen vor.
Es gibt aber Anzeichen, dass unter anderem gefallene ukrainische Soldaten im Wald beerdigt wurden. Laut dem Internetsender Hromadske befand sich ein Massengrab mit bis zu 25 getöteten ukrainischen Armeeangehörigen im betroffenen Gebiet.
Klar ist unterdessen, woran die meisten Menschen in den Gräbern gestorben sind: «Die Mehrzahl starb unter Beschuss, wir haben das den Daten nach bereits verstanden: Die Menschen kamen um, als sie (die Russen) die Stadt mit Artillerie beschossen», sagte Ermittler Kotenko.
Auch gab es ersten Berichten zufolge Anzeichen, dass einige der Opfer aufgrund fehlender medizinischer Unterstützung ums Leben gekommen sind.
Wolodymyr Selenskyj äusserte sich in seiner Videobotschaft zu den gefundenen Gräbern und kritisierte die Russen erneut scharf: «Russland hinterlässt überall, wo es war, den Tod und muss zur Verantwortung gezogen werden», so der ukrainische Präsident. Er bezog sich auf die mutmasslichen Kriegsverbrechen in Butscha und die tausenden Opfer, die bei der Belagerung der südukrainischen Stadt Mariupol starben.
Die russische Seite hat sich noch nicht unmittelbar zu den Gräbern bei Isjum geäussert. In der Vergangenheit hatte die russische Regierung um Wladimir Putin stets bestritten, dass russische Soldaten Gräueltaten und Kriegsverbrechen begehen würden. (con)