Die Ukraine feierte in den letzten Tagen grosse Geländegewinne. Im Norden konnten westlich von Charkiw Städte wie Balaklija, Kupjansk, Isjum oder Sjwatohirsk zurückerobert werden. Auch bei Lyssytschansk sollen die Ukrainer bereits sein.
Schauen wir uns die Entwicklungen der letzten Tage etwas genauer an.
Wir beginnen im Nordosten bei Charkiw. Am 6. September startet die Ukraine auf einer 20 bis 30 Kilometer breiten Front Angriffe in der Region bei der Stadt Balaklija. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Mittwoch in seiner Videoansprache dazu, dass es in dieser Woche «gute Nachrichten aus der Region Charkiw» gebe.
In den nächsten Tagen rückten die Ukrainer immer weiter vor und befreiten eine Ortschaft nach der anderen. Darunter auch die Städte Schewtschenko, Kopjansk und Isjum.
Am 10. September erklärte Russland, dass man sich aus dem Gebiet zurückziehen werde. Offiziell begründet wurde der Abzug damit, dass durch die Umgruppierung die Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen.
Mittlerweile soll die Armee bereits vor Lyssytschansk stehen, das im Sommer als eine der letzten grossen Städte in der Oblask Luhansk an die Russen fiel. Auf der gegenüberliegenden Flussseite von Lyssytschansk liegt Sjewjerodonezk, das als wichtige Industriestadt in der Ukraine gilt.
Auch im Süden dauert die Gegenoffensive Richtung Cherson an. Die Kämpfe sind heftig, die Gebietsgewinne aber noch überschaubar. Nach Angaben Kiews zogen sich russische Truppen auch aus Teilen des südlichen Gebiets Cherson zurück. Unabhängig überprüft werden konnten diese Angaben nicht.
Das britische Verteidigungsministerium, das laufend über die Lage berichtet, will festgestellt haben, dass Russland nahe Cherson Schwierigkeiten habe, genügend Nachschub über den Fluss Dnipro an die Front zu bringen. Eine improvisierte schwimmende Brücke, mit deren Bau vor zwei Wochen begonnen wurde, sei noch immer unvollendet. «Die ukrainische Langstrecken-Artillerie trifft jetzt vermutlich Übergänge des Dnipro so häufig, dass Russland keine Reparaturen an den Strassenbrücken vornehmen kann», so der Bericht.
Southern Axis Update:#Ukraine’s #Kakhovka Operational Group announced that Ukrainian forces have penetrated the front line at depths between 4 and 12km in unspecified areas, amounting to over 500 square kilometers of liberated territory. /1https://t.co/gjDA0Mp2kt pic.twitter.com/i2VrEeyq67
— ISW (@TheStudyofWar) September 13, 2022
Die grosse Frage ist jetzt: wie weiter? Wird die Ukraine versuchen, den Schwung auszunutzen, und führt Russland weitere Vergeltungsschläge auf die Strom- und Wasserzufuhr – und damit auf die Zivilbevölkerung – aus?
Strategie-Experte an der ETH Zürich, Marcel Berni, erklärte im Interview mit watson: «Ich glaube, die Ukrainer werden die Offensive nutzen, um noch mehr Gebiete zurückzuerobern. Sie haben bemerkt, dass sie die Russen überraschend in die Flucht treiben können, und werden darauf aufbauen.» Von einem Zusammenbruch der russischen Armee will er aber nichts wissen.