Haben Sie sich mit dem Krieg überlegt, die Ukraine zu verlassen?
Sevgil Musayeva: Nein. Als Russland am 24. Februar die Ukraine angriff, war ich in Kiew – und hatte keinerlei Panik.
Die Situation um Kiew war aber in den ersten drei Kriegstagen sehr unklar.
Noch am 24. Februar erhielt ich einen Anruf aus einer westlichen Botschaft. «Sie müssen Kiew sofort verlassen», sagte mir eine Quelle. «Die Russen werden in drei Tagen in Kiew sein.»
Weshalb erhielten ausgerechnet Sie diesen Anruf?
Es gab viele Gerüchte über schwarze russische Listen zu Politikern, Aktivistinnen und Journalistinnen. Es hiess, die Russen würden diese Leute festnehmen und in Lager schicken, sobald sie in Kiew seien.
Ihr Name stand also auf einer dieser Listen?
Ja. Später forderten mich auch ukrainische Sicherheitskräfte auf, Kiew zu verlassen. Am 25. Februar reiste ich tatsächlich für 13 Tage in die Westukraine. Doch dann wurde der US-Filmemacher und Regisseur Brent Renaud in der Ukraine getötet. Er war der Partner meiner Schwester.
Sie kehrten wieder nach Kiew zurück?
Ich musste meiner Schwester Renauds Tod mitteilen – ein sehr emotionaler Moment. Und ich half bei den Vorbereitungen, den Leichnam in die USA zu transportieren. Am 23. März flog ich zur Beerdigung nach Arkansas.
Ihr Team der «Ukrajinska Prawda» blieb in Kiew?
Wir hatten schon eine Woche vor Kriegsbeginn reagiert und einen Teil des Teams in die ukrainischen Karpaten verlegt.
Also ahnten Sie, dass es zum Krieg kommt?
Nein. Ich konnte mir eine derart brutale Invasion bis nach Kiew nicht vorstellen. Wir wollten aber auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, befürchteten Probleme mit dem Internet oder einen Blackout. Als die Russen dann das Atomkraftwerk bei Saporischschja bombardierten, wuchs die Angst. Wir evakuierten drei Teammitglieder nach Polen.
An wie vielen Orten arbeitet Ihre Redaktion zurzeit?
Vorübergehend war die ganze Reaktion wieder in Kiew. Doch wir hatten erwartet, dass die Russen die kritische Infrastruktur der Ukraine zerstören. Deshalb besorgten wir uns noch ein Gästehaus in der Westukraine.
Wie viele Journalistinnen und Journalisten sind geflüchtet?
Alle meine Kolleginnen und Kollegen sind geblieben. Ich kenne nur zwei Journalistinnen mit Kindern, welche die Ukraine verlassen haben. Journalistinnen und Journalisten fragen sich jeden Tag, wo sie am nützlichsten sind für das Land. Viele melden sich deshalb freiwillig für die Front, um ihr Land zu beschützen.
Wie sind Ihre Arbeitsbedingungen? Präsident Wolodimir Selenski und die ukrainische Regierung würden kaum Kritik zulassen, war zu hören.
Natürlich gibt es Restriktionen, vor allem wenn das Leben von Menschen auf dem Spiel steht. So dürfen wir zum Beispiel keine Fotos und Videos von Orten publizieren, die von Raketen getroffen wurden. Es bestünde sonst die Gefahr, dass sie nochmals bombardiert würden, falls die erste Welle zu wenig erfolgreich war. Vor der grossen Gegenoffensive schloss das Militär zudem die Frontlinie für Journalisten. Und es gibt auch direkte Interventionen nach Artikeln.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
In einem Artikel beschrieben wir, wie die ukrainische Armee die Russen mit Himars-Attrappen in die Irre führte. Sie bombardierten Attrappen – und verloren Millionen von Dollars. Das Verteidigungsdepartement sagte uns, diese Information müsse geheim bleiben. Wir wiesen aber darauf hin, dass die «Washington Post» schon darüber berichtet hatte. Sie erreicht 600 Millionen Menschen. Wir beliessen den Artikel online.
Hat die «Ukrajinska Prawda» direkten Zugang zu Präsident Selenski?
Ja. Das letzte Interview mit ihm fand im April statt – ein Gruppeninterview mit mehreren Journalisten.
Und durften Sie da auch kritische Fragen stellen?
Natürlich. Wir konnten all unsere Fragen stellen.
Die «Ukrajinska Prawda» war vor dem Krieg bekannt für ihre kritische Haltung gegenüber ukrainischen Präsidenten. Ist das unter Selenski so geblieben?
Wir publizierten auch kritische Artikel über Präsident Selenski. So beschrieben wir den Konflikt, den Selenski mit General Waleri Saluschni hat, dem Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte. Selenski passte es überhaupt nicht, wie populär Saluschni ist. Dieser geniesst allerhöchstes Vertrauen in der Bevölkerung. Unsere Quellen für den Artikel sind zu 100 Prozent zuverlässig. Wir erhielten aber sehr viele kritische Fragen aus unserer Leserschaft. «Darf man in einem Krieg solche Artikel publizieren?», fragten sie uns.
Und: Dürfen Sie?
Die Meinungsfreiheit ist in der Ukraine sehr wichtig. Wir schützen unsere Rechte, schreiben selbst im Krieg bewusst kontroverse Artikel. Doch wir müssen uns auch mit der Kritik unseres Publikums auseinandersetzen.
Sie selbst sind Krimtatarin. Ist das für Sie ein Problem? Krimtataren wurden von den Russen verfolgt. Seit 2014 stehen sie erneut im Fokus.
Ja, das ist ein Problem. In den ersten Kriegstagen rief mich eine russische Freundin an. Sie ist Politaktivistin und floh vor langer Zeit aus Russland. «Seva, die Russen kommen in die Ukraine, um alle zu töten», sagte sie mir. «Sei bitte vorsichtig, vor allem, weil du Krimtatarin bist. Die Russen hassen Krimtataren.» Inzwischen weiss ich: Meine Freundin hatte Recht.
Wie sieht Ihre Geschichte als Krimtatarin aus?
Die Generation meiner Urgrossmutter war gezwungen, die Krim zu verlassen. Die ganze Familie wurde in den Ural deportiert. Später zog sie nach Usbekistan. Erst 1989, 50 Jahre später, konnte sie auf die Krim zurückkehren. Ich war damals zweieinhalb Jahre alt. Seit 2014 hat sich die Situation der Krimtataren aber wieder verschlechtert.
Sie selbst waren als Journalistin auf Korruption in der Öl- und Gasindustrie in der Ukraine spezialisiert, ein sehr heikles Gebiet. Wie kam es dazu?
Zwei Vorfälle haben mich für den Journalismus sensibilisiert. 2000 wurde Heorhij Gongadze ermordet, Co-Gründer der «Ukrajinska Prawda». Ich war damals 13 Jahre alt und fragte mich: Wie kann man nur jemanden töten, weil er die Wahrheit sagen will? 2006 wurde die russische Journalistin Anna Politkowskaja ermordet. Ihr Buch «Die Wahrheit über den Krieg» zum zweiten Tschetschenien-Krieg inspirierte mich. Ich entschied mich, Journalistin zu werden und fokussierte mich bald auf den Öl- und Gassektor.
Was war Ihr wichtigster Artikel?
Ich deckte in der Ära von Präsident Wiktor Janukowytsch mehrere Korruptionsfälle auf, in die Mitarbeiter des Präsidenten involviert waren. Der wichtigste Artikel erschien in «Forbes Ukraine» zu Sergej Kurchenko. Dieser mächtige Geschäftsmann war erst 27 Jahre alt und aus dem Nichts aufgetaucht. Er war Geldgeber von Präsident Janukowytsch und hatte Verbindungen zu dessen Sohn. Kurchenko war Schattenbesitzer vieler Öl- und Gasvermögen.
Wurden Sie bei Ihren Recherchen bedroht?
Ja, wir erhielten mehrere Drohungen. Diese Recherchen waren gefährlich. 2013 kaufte dann Kurchenko kurzerhand die Media Holding auf, die «Forbes Ukraine» herausgab – für sagenhafte 360 Millionen Euro.
Damit hatten Sie ein Problem.
Die Botschaft an mich war klipp und klar: «Halt die Klappe.» Ich verliess «Forbes». Ich konnte unmöglich mit und für Kurchenko arbeiten.
Sie gingen dann zur «Ukrajinska Prawda» – und dort wurde 2016 wieder ein Journalist ermordet.
Pavel Sheremet – mein journalistischer Lehrmeister und ein Freund. Sein Tod traf mich hart, er ist bis heute nicht aufgeklärt. Es folgten sehr schwere Zeiten. Nach Pavels Tod war ich plötzlich für drei Jobs zuständig: Chefredaktorin, Entwicklungs- und Finanzdirektorin. Ich bekam ein Burn-out und verliess 2018 die «Ukrajinska Prawda» für eineinhalb Jahre, bildete mich als Journalistin weiter.
Heute sind Sie im Krieg wieder sehr stark gefordert, erhalten täglich bis zu 100 Nachrichten. Wie können Sie das bewältigen?
Ich schaue stets – sogar jetzt – auf mein Handy. Ich will nichts Wichtiges verpassen. Ich erhalte viele Anfragen, die mit Journalismus nichts zu tun haben. Ich versuche aber zu helfen, denn die Menschen kämpfen hart im Krieg.
Das «Time Magazine» hat Sie im Mai zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2022 gewählt. Hat das Ihr Leben verändert?
Überhaupt nicht. Ausser dass ich jetzt dank der Zeremonie ein paar Fotos mit Hollywoodstars habe. Zudem erhalte ich Einladungen aus vielen Ländern. Meine Ernennung war eine Anerkennung für die unabhängigen Medien in der Ukraine.
Kommunikation ist die grosse Stärke der Ukraine. Sprechen Sie sich bei Ihren Einladungen mit der Regierung ab?
So funktioniert das nicht in unserem Land. Ich bin unabhängige Journalistin. Und ich habe keine Vereinbarung mit der Regierung. Ich will aber den Menschen Perspektiven aufzeigen zu unsrem Land.
Was macht für Sie die Ukraine aus?
Das hat mich auch Parag Khanna gefragt, der indisch-amerikanische Spezialist für Geopolitik. Ich antwortete ökonomisch. Doch er schüttelte den Kopf und sagte: «Die Ukraine hat die Energie junger Menschen. Das ist entscheidend.» Dem stimme ich absolut zu. Wir sind ein junges Volk, und das hilft uns in diesem Krieg.
Wie wird der Krieg enden?
Die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen. Daran habe ich keinen Zweifel. Das ist ein Krieg zwischen Zukunft und Vergangenheit. Und die Ukraine kämpft für die Zukunft. Eine grosse Frage gibt es aber.
Welche?
Die Frage nach dem Preis, den die Ukraine am Ende bezahlt. Er ist schon heute zu hoch. Nach Kriegsende werden wir mit vielen Problemen kämpfen: mit dem Lebensstandard, mit dem Zugang zu Medizin und Erziehung.
Was wünschen Sie sich von der Schweiz?
Zwei Punkte. Erstens sollte die Schweiz die Regeln für russische Vermögen ändern. Russische Oligarchen und Geschäftsleute sollen sie nicht mehr so einfach hier verstecken können. Sie zerstören mit Putin zusammen die Ukraine und sie sollen für die Schäden des Krieges bezahlen. Sie sind Teil des russischen Systems.
Und zweitens?
Vielleicht kann die Schweiz beim Wiederaufbau der Ukraine helfen. Ich habe sogar eine konkrete Idee. Die Schweiz könnte einen Teil der Schulen und Spitäler wieder aufzubauen, in einzelnen Städten zum Beispiel.
Schulen und Spitäler sind besonders wichtig?
Ja. Fehlen diese Infrastrukturen, werden die Frauen und Kinder nicht mehr zurückkehren, welche die Ukraine verlassen haben. Aber ohne Frauen und Kinder hat die Ukraine keine Zukunft. Ich könnte mir aber noch etwas von der Schweiz vorstellen.
Was?
Vielleicht kann sie ein Programm starten, um den unabhängigen Journalismus in der Ukraine zu unterstützen und zu schützen. Meinungsfreiheit und unabhängige Medien sind Kernelemente einer Demokratie.
Wie hat Ihnen Luzern gefallen?
Diese schöne Stadt erinnert mich stark an die Krim.
Weshalb?
Ich besuchte vor dem Krieg Jalta, eine Stadt auf der Krim. Genau wie Luzern liegt sie mitten in der Natur und ist von wundervollen Bergen umgeben. Doch inzwischen ist Jalta zur Militärbasis geworden. Das macht mich traurig. Viele Städte auf der Krim könnten sein wie Luzern oder andere schöne Schweizer Städte. Ich träume davon, dass das eines Tages so sein wird.
Selenskyj wurde u.a. darum gewählt, weil er klar für die Korruptionsbekämpfung und für die Entmachtung der Oligarchen eingestanden ist. Da er zuvor nicht in der Politik war, geniesst er das Vertrauen der Bevölkerung. Und dass die Krim nicht von RU "befreit" wurde, sollte eigentlich langsam allen klar sein.