Es sind Bilder eines triumphalen Einzugs, die die Bewohner der Region Cherson in den sozialen Medien verbreiten. Alte Frauen mit Tränen in den Augen umarmen junge, bärtige Soldaten, denen die Anstrengungen der letzten Wochen ins Gesicht geschrieben sind. «Jungs, wo seid ihr so lange geblieben?», fragen die ukrainischen Zivilisten.
Schützenpanzerrollen an Gehöften vorbei. Bauern stehen am Wegrand und winken den Soldaten auf den Panzern zu. Überall werden blau-gelbe Fahnen aus Verstecken herausgeholt. In Cherson, der Provinzhauptstadt, lässt sich ein Mann mit einer ukrainischen Flagge in der Hand auf dem Dach eines Autos durch die Strassen kutschieren.
Auf dem Freiheitsplatz vor dem imposanten Gebäude der Regionalverwaltung drängen sich Menschen um ein paar Soldaten, die als erste Uniformierte an Ort und Stelle eintreffen.
Den Fahnenmast vor dem Provinzgebäude haben die Russen abmontiert, weil an seiner Spitze der Dreizack, das ukrainische Nationalemblem, angebracht war. Auch alle anderen ukrainischen Symbole wurden entfernt. Aber schon vor der Ankunft der ersten Soldaten haben Einwohner den weitläufigen Freiheitsplatz mit blau-gelben Fahnen und Bändern geschmückt.
Welch ein Unterschied zum 24. Februar, dem ersten Kriegstag. Als die russischen Schützenpanzer damals in Cherson eindrangen, stellten sich ihnen keine Soldaten in den Weg, sondern Zivilisten. Die Menschen demonstrierten lautstark gegen die Invasoren. Ein Ukrainer kletterte auf einen fahrenden Schützenpanzer mit dem Z-Symbol und schwenkte oben angekommen eine blau-gelbe Fahne. Die Russen hatten sich die «Befreiung» der Stadt wohl anders vorgestellt.
Nach und nach unterdrückten sie die Demonstrationen, und unzählige der widerspenstigen Ukrainer verschwanden in Gefängnissen und Folterkellern. Zehntausende, unter ihnen viele Kinder, wurden evakuiert, wie die Russen euphemistisch sagten, und in sogenannte Filtrationslager gesteckt. Dort wollte man die Spreu vom Weizen trennen, also die unbelehrbaren ukrainischen Nationalisten von den Russland-freundlichen Menschen separieren. Letztere erhielten einen Wohnort in Russland zugewiesen, während Erstere in einem über die ganze Russische Föderation verstreuten Netz von Lagern gefangen gehalten werden.
Stolz zeigte man am russischen Fernsehen ukrainische Waisenkinder, die nun zwangsweise russifiziert werden sollen. Sie wurden russischen Adoptiveltern übergeben. Alles Ukrainische, neben nationalen Symbolen hauptsächlich die Sprache, soll getilgt werden. In den Schulen wurde das russische Curriculum eingeführt. Überall liessen die Russen riesige Plakate aufhängen. Sie zeigen ein weiss gekleidetes, blondes Mädchen, das die russische Trikolore in den Händen hält. In grossen Lettern steht daneben: «Russland ist für immer hier.»
Kaum etwas könnte die absurden Lügen der russischen Führung und ihrer ukrainischen Lakaien besser illustrieren, als diese Plakate, die nun von Zivilisten in Cherson von den Werbeflächen heruntergerissen werden. Derweil riefen die ukrainischen Streitkräfte alle noch am westlichen Dnipro-Ufer verbliebenen russischen Soldaten auf, sich sofort zu ergeben. Es gibt Berichte, wonach die Russen jenen Kämpfern, die es nicht rechtzeitig über den an manchen Stellen fast einen Kilometer breiten Fluss schafften, einfach empfahlen, sich Zivilkleider anzulegen und irgendwie die Flucht zu ergreifen.
Die Stadt Cherson hatte vor dem Krieg knapp 300'000 Einwohner. Vor kurzem kündigten die Russen an, auch die Zivilisten auf beiden Seiten des Dnipro in einem Streifen von 15 Kilometer Tiefe zu evakuieren. Einmal gaben sie an, bereits 70'000 Menschen ans Ostufer gebracht zu haben.
Es ist also völlig unklar, wie viele Menschen noch in dem Gebiet leben, zumal unzählige Zivilisten während der achtmonatigen Besatzungszeit in Richtung der ukrainisch kontrollierten Zonen flüchteten. Dabei war viel Korruption im Spiel, weil die Ukrainer die russischen Offiziere an den Strassensperren bestechen mussten. Ein paar Russen verdienten sich mit solchen Aktionen ein goldenes Näschen.
In der Region von Cherson gibt es drei Übergänge über den Dnipro: eine Strassen- und eine Eisenbahnbrücke, wobei die Russen beide am Freitag in die Luft sprengten, um den ukrainischen Vormarsch zu stoppen. Unklar ist aber, was mit dem dritten Übergang, dem etwas weiter entfernten Staudamm und Wasserkraftwerk von Kachowka, passiert ist.
Der Rückzug aus Cherson bedeutet einen grossen Sieg für die Ukrainer. Für die russischen Streitkräfte war es der einzige Ausweg aus einer zunehmend aussichtslosen Lage. Weil die Ukrainer die drei Übergänge in den letzten Monaten durch Beschuss mit GPS-gesteuerten HIMARS-Raketen für schwere Lastwagen grösstenteils unbrauchbar gemacht haben, erhielten die russischen Truppen am Westufer viel zu wenig Nachschub.
Durch den Rückzug hat sich die Frontlänge für beide Kriegsparteien nun deutlich verkürzt. Neu verläuft die Südfront über rund 300 Kilometer entlang des Dnipro und des grossen Stausees von Kachowka. Weil das ein schier unüberwindbares natürliches Hindernis ist, ist es wahrscheinlich, dass sich der Krieg indessen mehr nach Nordosten verlagert, in die Region des russisch kontrollierten Kernkraftwerks von Saporischschja und in den Donbass. Dort stehen die Ukrainer schon seit Kriegsbeginn auch auf der Ostseite des grossen Flusses.
Das Fernziel ukrainischer Gegenoffensiven ist die Rückeroberung der seit dem 24. Februar verlorenen Gebiete und der 2014 von Russland völkerrechtswidrig besetzten Halbinsel Krim. Verwundbar ist die Krim, weil es nur zwei Achsen gibt, über welche die Russen die Halbinsel versorgen können: die Brücke von Kertsch, welche die Krim direkt mit dem russischen Festland verbindet, und die Strasse, die von Russland dem Asowschen Meer entlang durch Mariupol und Melitopol bis auf die Krim führt.
Die Brücke von Kertsch haben die Ukrainer erst vor Kurzem stark beschädigt; und die Landbrücke via Mariupol ist an der dünnsten Stelle nicht einmal mehr 80 Kilometer breit. Mit Sicherheit werden die Ukrainer versuchen, die Krim vollkommen vom Nachschub abzuschneiden. Erst am Mittwoch hat US-Präsident Biden erwähnt, dass Amerika Kiew nicht nur Himars-Raketen, sondern auch GPS-gesteuerte ATACMS-Geschosse geliefert hat, die eine Reichweite von rund 300 Kilometern haben. Damit liegt die gesamte Halbinsel Krim und die strategisch wichtige Kertsch-Brücke im Wirkbereich der ukrainischen Raketenartillerie.
Aber die Sorgenfalten kleiner macht er noch nicht. Der Winter steht noch immer vor der Tür, die Energieversorgung ist noch immer ein jongliere mit dem Verbliebenen, Trinkwasser ist auch überlebenswichtig.
DEZA ist gefragt. Jetzt, nicht morgen.
Kann es sein, dass es bei den Wahlen leichte Unstimmigkeiten bei der Auszählung der Stimmen gab?