Lange schien unklar, ob die russische Armee sich tatsächlich aus Cherson zurückziehen oder die Ukrainer dort in einen Kampf gegen ihre besten verblieben Einheiten locken will. Kiew äusserte sich bis zuletzt skeptisch über die wahren Absichten der Besatzer und vermied weitere Vorstösse auf die Grossstadt am Dnipro im Süden des Landes. Doch jetzt deutet alles auf die nächste Katastrophe für Putins Truppen hin.
«Heute gibt es gute Nachrichten aus dem Süden», schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinem Lagebericht am Donnerstagabend. «Dutzende ukrainische Flaggen sind im Zuge unserer Operation wieder an ihren rechtmässigen Platz zurückgekehrt, 41 Ortschaften wurden befreit.» Bislang unbestätigten Berichten von Freitagmorgen zufolge soll die ukrainische Flagge sogar schon wieder über dem Gebäude der Regionalverwaltung in Cherson wehen, wie Fotos in sozialen Medien zeigten:
#Cherson Innenstadt vor einigen Minuten. Einheimische haben die Flagge errichtet. Die Truppen sind nach letzten Meldungen nur noch wenige Kilometer entfernt, müssen wegen Minen aber vorsichtig sein.#Kherson pic.twitter.com/kU7Khw7zKD— Stimme der Ukraine (@StimmeUkraine) November 11, 2022
Die bestätigten Geländegewinne der Ukrainer sind in dieser animierten Karte gut zu erkennen:
Confirmed territory changes in Kherson in the past 24 hours, visualised. pic.twitter.com/PMXu3ymOrr— Artoir (@ItsArtoir) November 11, 2022
Der Kreml spricht von einem geordneten Rückzug aus Cherson, doch so einfach machen es die Ukrainer den abziehenden Besatzern nicht. Seit Monaten haben die Ukrainer sämtliche Brücken in der Region unbrauchbar geschossen, vollends unhaltbar wurde die russische Besatzung in der Region wohl nach dem Anschlag auf die Krim-Brücke Anfang Oktober, über die der Grossteil des russischen Nachschubs in die Stadt kam. Wie viele russische Soldaten noch am rechten Ufer des Dnipro stehen, ist unklar, doch es könnten Tausende sein. Sie müssen den Fluss jetzt auf Fähren und in kleinen Booten überqueren – und das offenbar unter massiven Angriffen der ukrainischen Artillerie.
«Die ukrainische Armee versuchte in der Nacht, den Transport unserer Truppen ans linke Ufer des Dnipro zu unterbrechen und traf dabei fünf unserer Übergange mit Himars-Raketen», teilte das russische Verteidigungsministerium am Freitag in ungewöhnlicher Offenheit mit. Dem Kreml zufolge war der Rückzug seiner Truppen bis Freitagmorgen abgeschlossen, aber das scheint wenig glaubwürdig. Die ukrainische Armee veröffentlichte am Donnerstagabend dieses Video, das einen Angriff mit Mehrfachraketenwerfern mutmasslich auf russische Stellungen in Cherson zeigt:
For every meter of our land - fire! pic.twitter.com/0M0dP0uYR9
— Defense of Ukraine (@DefenceU) November 10, 2022
Auch pro-russische Kriegsblogger berichten von gezielten Angriffen der Ukrainer auf die Flussübergänge, von ukrainischen Spezialkräften, die schon in Cherson sind – und von einsetzender Panik unter den russischen Soldaten, nicht nur am rechten Ufer des Dnipro: «Meine Quellen berichten von Anarchie am linken Ufer des Dnipro, von aufgegebener Ausrüstung und verlassenen Checkpoints», schreibt der Kriegsblogger «Dimitriyev» auf Telegram. «Nach allem, was ich höre, ist es nicht mehr möglich, den Fluss in Ruhe zu überqueren. Es zeichnet sich ein militärisches Desaster ab. Und es scheint gut möglich, dass der Vormarsch der Ukrainer nicht am Fluss endet.»
Für Kriegsherr Putin ist der Verlust von Cherson eine gewaltige Niederlage, nicht nur politisch, sondern auch militärtaktisch – selbst wenn die Ukrainer vorerst rechts des Dnipro Halt machen. Die Stadt mit früher knapp 300'000 Einwohnern ist ein wichtiger Brückenkopf für Russland bei der Verteidigung der Krim.
Wenn die Ukrainer Cherson und die Mündung des Dnipro unter Kontrolle haben, stehen ihrem weiteren Vormarsch auf die besetzte Halbinsel keine natürlichen Hindernisse mehr im Weg. Und vielleicht noch wichtiger: Von Cherson aus können die Ukrainer mit ihrer Langstreckenartillerie schon die ersten Ziele auf der Krim ins Visier nehmen und so ihre erfolgreiche Taktik der gezielten Nadelstiche gegen wichtige Ziele der Russen fortsetzen.
Eine Sorge dürfte die ukrainischen Militärs jetzt aber umso mehr umtreiben: Sprengen die Russen bei ihrem Rückzug das Stauwerk am Dnipro in Nowa Kachowka? Schon im April haben Putins Truppen das Bauwerk vermint, zuletzt sollen dort nach ukrainischen Angaben mit Sprengstoff beladene Lkw postiert worden sein.
Eine Sprengung des Damms, etwa 80 Kilometer flussaufwärts vom Zentrum von Cherson gelegen, hätte fatale Folgen für Zehntausende Menschen und könnte einen Störfall am Atomkraftwerk Saporischschja auslösen, das sein Kühlwasser aus dem Stausee bezieht. Die Flutwelle würde vor allem die Region links des Dnipro treffen, also bislang russisch besetztes Gebiet. «Die Frage ist eher, ob die Russen den Damm bei ihrem Rückzug sprengen oder sabotieren werden», schrieb dazu kürzlich der US-Militärexperte Michael Kofman. «Diese Möglichkeit scheint mir realistischer als das russische Gerede von einer 'schmutzigen Bombe'».
Quellen:
Die ruhmreichen russischen Soldaten flüchtet nicht!
Sie versuchen nur vor der ukrainischen Armee an der Grenze zu sein!