Im Osten der Ukraine toben die schwersten Gefechte seit Beginn der Waffenruhe, und sie finden in den Kommentarspalten der Onlinemedien ein wütendes Echo. Die russische Sicht auf den Konflikt wird dabei lautstark von einer Fraktion vertreten, die zumindest zum Teil aus bezahlten Trollen besteht. Doch es wäre unredlich, alle Kritik an der Ukraine-Politik der EU und der USA oder an den Handlungen der ukrainischen Regierung als russische Propaganda abzutun. Die sogenannten «Putin-Versteher» liegen nicht überall falsch.
Russland, dieser militärisch hochgerüstete Gigant im Osten, wirkt auf uns bedrohlich. Zu recht, wenn wir an die Streitmacht denken, die der Kreml hat. Doch sollte man nicht vergessen, dass Russland in den letzten gut 200 Jahren mehrmals von Westen her angegriffen wurde. Napoleons Grande Armée, die Streitkräfte der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und danach polnische Truppen drangen weit auf russisches Gebiet vor. an der ukrainischen Grenze zusammengezogen
Nichts aber war so verheerend wie der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Dieser Vernichtungskrieg, dem Millionen von russischen Soldaten und Zivilisten zum Opfer fielen und der das Land furchtbar verwüstete, hätte fast das Ende Russlands bedeutet.
Wenn Kritiker des Westens wie etwa der deutsche Kabarettist Volker Pispers sich indes zur Behauptung hinreissen lassen, Russland habe seinerseits den Westen nie angegriffen, ist das ausgemachter Unsinn. Polen, das Baltikum oder Finnland können ein bitteres Lied davon singen.
Moskaus Angst vor dem Westen dürfte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kaum abgenommen haben, zumal die NATO-Osterweiterung in der Folge russische Bedrohungsszenarien bestätigte. Obwohl das westliche Militärbündnis vermutlich keine offensiven Schritte gegen Russland plant, gilt es in der aktuellen russischen Militärdoktrin explizit als grösste Bedrohung der nationalen Sicherheit. Freilich gilt es dabei zu bedenken, dass Putin die Furcht vor USA und NATO auch aus innenpolitischen Gründen schürt.
Die NATO-Osterweiterung, in deren Verlauf frühere sowjetische Vasallenstaaten und sogar ehemalige Sowjetrepubliken sich – ihrerseits natürlich aus Angst vor russischem Hegemonialstreben – dem militärischen Bündnis des Westens anschlossen, stellt aus russischer Sicht zudem einen Vertrauensbruch dar. 1989 hatten der deutsche Bundeskanzler Kohl und sein Aussenminister Genscher Moskau nämlich ausdrücklich garantiert, dass es keine Osterweiterung der NATO geben werde. Nur so war das Plazet der Sowjetunion für die deutsche Wiedervereinigung zu haben.
Der damalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, beklagte sich denn auch kürzlich mit Blick auf die Ukraine über die westliche Politik: «Indem der Westen die Ukraine in die euroatlantische Gemeinschaft hineinzerrte, ignorierte er demonstrativ die Interessen Russlands», schrieb der 84-Jährige in der russischen Regierungszeitung «Rossijskaja Gaseta». Problematisch an dieser geostrategischen Sicht auf den Konflikt ist allerdings, dass in ihr das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung gar nicht erst vorkommt.
Geostrategisch ist eine Ukraine, die im westlichen Lager steht, für Russland tatsächlich kaum zu akzeptieren. Ohne dieses Land, das die Waffenschmiede der Sowjetunion und deren bevölkerungsmässig zweitgrösste Republik war, ist der Status einer Supermacht für Russland nahezu unerreichbar. Befindet die Ukraine sich gar in einem Bündnis mit einer rivalisierenden Macht, wird die Lage für Moskau unerträglich.
Was die Politik der ukrainischen Regierung anbelangt, so kritisieren «Putin-Versteher» nicht ohne Grund, dass sie wenig Rücksicht auf Empfindlichkeiten im teilweise russischsprachigen Süden und Osten des Landes nimmt. So wollte die neue Führung kurz nach dem Sturz Janukowitschs ein von ihm eingeführtes Sprachengesetz kippen, das in den Regionen Russisch als zweite Amtssprache ermöglichte.
Ukrainische Nationalisten befürchteten, dass sich russischsprachige Ukrainer kaum noch die Mühe machen würden, Ukrainisch zu lernen, falls das Russische diesen Status beibehalten könnte. Schliesslich nahm Kiew davon Abstand, das Gesetz zu streichen – allerdings erst nach massiven Protesten.
Der von der russischen Propaganda verbreitete Vorwurf, die neue ukrainische Regierung sei faschistisch unterwandert, ist unhaltbar. Nicht leugnen lässt sich aber, dass auf dem Maidan auch rechtsextreme Kräfte an den Protesten gegen Janukowitsch teilnahmen. Der Rechte Sektor, der als Partei und als paramilitärische Organisation auftritt, hat jedoch bei den Parlamentswahlen 2014 nur gerade 1,8 Prozent der Stimmen und ein Direktmandat geholt.
Der Einfluss der Rechtsextremisten ist auch deswegen stark geschwunden, weil viele Ukrainer sich bewusst wurden, dass diese Kreise eine europafeindliche Politik betreiben – was einem Hauptanliegen des Euromaidan zuwiderläuft.
Dagegen war die rechtsnationale und antisemitische Partei Swoboda, die freundschaftliche Kontakte mit der deutschen Neonazi-Partei NPD unterhält, in der Übergangsregierung mit zunächst vier und dann drei Ministern vertreten. Im neuen Kabinett, das sich im Dezember 2014 formierte, ist die Partei aber nicht mehr vertreten.
Dennoch ist es problematisch, welche Akzeptanz ultranationalistischen Kreisen in der Westukraine entgegengebracht wird – ganz im Gegensatz zum Osten. Dies hat wohl zu tun mit dem unterschiedlichen Blick auf die Geschichte. Besonders die für beide Seiten enorm leidvollen Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg werden im Westen ganz anders erinnert als im Osten.
So ehren viele westukrainische Nationalisten «Befreiungskämpfer», die im Krieg mit den Nazis kollaborierten. Die aus westukrainischen Nationalisten rekrutierte Waffen-SS-Division «Galizien» zum Beispiel hat, so sieht es Swoboda, «nur an der Front gegen die Bolschewiken gekämpft».
Bekanntestes Beispiel ist Stepan Bandera, der Anführer der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (UON). Deren militärischer Arm unterstützte die Nazis bei der Vernichtung der Juden im Osten und verübte in Wolhynien ein Massaker an zehntausenden Polen. Dennoch wurde Bandera 2010 vom damaligen prowestlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko zu. Auf dem Euromaidan war sein Porträt prominent zu sehen. m «Helden der Ukra ine» erklärt
Das Wohlwollen, mit dem zahlreiche «Putin-Versteher» die russische Annexion der Krim und die Intervention in der Ostukraine betrachten, ist oft einem EU-feindlichen und mehr noch einem antiamerikanischen Reflex geschuldet. Auch die Bereitwilligkeit, mit der manche sich absurde Verschwörungstheorien zu eigen machen, spricht nicht gerade für sie.
Mehr Verständnis für russische geopolitische Empfindlichkeiten ist problematisch, wenn dabei das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine – oder anderer Staaten – als Quantité négligeable behandelt wird. Dennoch wäre es von Vorteil, sich ab und zu in die russische Position hineinzudenken.
Aber als Halbfinne bin ich diesbezüglich wohl auch etwas voreingenommen – uns ist eigentlich sowieso irgendwie alles und jeder suspekt:)