Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hat der EU für ihre bisherige Unterstützung gedankt – und zugleich neue Wünsche unterbreitet. Einmal mehr forderte er die Staats- und Regierungschefs der EU zur Lieferung moderner Kampfjets an sein Land auf, ebenso wie zur Bereitstellung von Raketen mit grösserer Reichweite. Nach seinem Besuch im befreiten Cherson im Süden des Landes berichtete er am Donnerstag, dass allmählich das Leben dorthin zurückkehre.
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Er danke Polen und der Slowakei für die Entscheidung, Kampfjets des sowjetischen Typs MiG-29 bereitzustellen, sagte Selenskyj am Donnerstag bei einem EU-Gipfel, zu dem er per Video zugeschaltet war. «Dies wird die Verteidigung unseres Luftraums erheblich stärken. Aber wir brauchen moderne Flugzeuge.»
Die Slowakei hatte am Donnerstag bekanntgegeben, der Ukraine die ersten 4 ihrer 13 versprochenen Flugzeuge des sowjetischen Typs MiG-29 übergeben zu haben. Zuvor hatte Polen die Lieferung von Kampfflugzeugen desselben Typs angekündigt. Selenskyj dringt zudem schon lange auf die Lieferung moderner Kampfflugzeuge aus dem Westen.
Selenskyj fragte die Gipfel-Teilnehmer, ob es einen rationalen Grund für die Verzögerung bei der Bereitstellung moderner Flugzeuge gebe. Dabei verwies er auf die russischen Drohungen vor der Lieferung des deutschen Leopard-Kampfpanzers aus der EU. «Und was hat Russland daraufhin getan? Wir alle müssen uns daran gewöhnen, dass ein terroristischer Staat öfter blufft, als dass er eskalieren kann.»
Selenskyj betonte: «Zeit ist wichtig. Nicht nur Monate und Wochen, sondern auch Tage sind wichtig. Je schneller wir gemeinsam handeln, desto mehr Leben können wir retten.» Er verwies zugleich auf die bisherige Unterstützung aus dem Ausland. «Dies ist ein Beweis dafür, dass Europa seine Werte zu verteidigen weiss und den Mut hat, dem Terror die Stirn zu bieten», sagte er.
Nach einem Besuch in der von ukrainischen Truppen im Herbst weitgehend zurückeroberten Region Cherson im Süden der Ukraine zog Selenskyj ein positives Fazit. «In einigen Orten wurden mehr als 90 Prozent der Gebäude zerstört», sagte Selenskyj am Donnerstag in seiner allabendlichen Videoansprache. «Aber selbst in solche Dörfer kehren die Menschen zurück, und das ist ein Beweis dafür, dass das Leben immer noch gewinnt.» Die Ukraine werde ihr Möglichstes tun, «um unsere Territorien wieder aufzubauen».
Selbst auf den Feldern um Cherson kehre das Leben zurück. «Es ist eine Freude zu sehen, wie die von russischen Minen und Granaten geräumten Felder in der Region Cherson bebaut und wieder zum Leben erweckt werden», sagte Selenskyj. Allerdings gebe es noch genügend Felder, die vermint seien. «Es gibt noch genug Arbeit für unsere Pioniere und Pyrotechniker.» Doch er sei zuversichtlich, betonte Selenskyj, dass diese Gebiete von allen tödlichen Hinterlassenschaften Russlands befreit würden. «Die ganze Ukraine wird leben.»
In diesem Zusammenhang richtete Selenskyj einen besonderen Dank an Finnland. Die Regierung in Helsinki hatte am Donnerstag beschlossen, der Ukraine drei Leopard-Minenräumpanzer zu übergeben.
Russische Truppen und Sicherheitsdienste begannen nach Erkenntnissen des ukrainischen Generalstabs mit sogenannten Säuberungsaktionen unter der Bevölkerung des von ihnen kontrollierten Dnipro-Ufers in der südukrainischen Region Cherson. Dort habe in verschiedenen Siedlungen die Suche nach Bürgern mit pro-ukrainischer Einstellung, Militärrentnern und Mitarbeitern ukrainischer Strafverfolgungsbehörden eingesetzt, teilte der Generalstab in Kiew am Donnerstag in seinem täglichen Lagebericht auf Facebook mit.
In der Siedlung Nowa Kachowka dagegen sei eine grossangelegte Razzia erfolgt. Dabei seien bei der Zivilbevölkerung grosse Mengen an Haushaltsgeräten, Schmuck und Mobiltelefonen «konfisziert» worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Bei einer ukrainischen Offensive im Herbst hatten sich die russischen Militärs bei Cherson vom Westufer des Dnipro zurückgezogen. Seitdem haben russische Truppen ihre Verteidigungslinien am Südufer des Stroms massiv ausgebaut.
Die russische Luftwaffe beschoss am Donnerstagabend die südukrainische Hafenstadt Odessa mit mehreren Raketen. Nach ersten Berichten des ukrainischen Militärs wurden zwei Raketen von der Flugabwehr abgefangen. Weitere Angaben lagen zunächst nicht vor. Bereits am Vortag war Odessa mit mehreren Raketen angegriffen worden.
Auch am Freitag sind neue Gefechte um die seit Monaten schwer umkämpfte Stadt Bachmut im Osten der Ukraine zu erwarten. Ukrainische Militärs wollen ein Nachlassen der russischen Kampfkraft erkannt haben. (sda/dpa)