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Ukraine

Kaum Debatte um Streumunition – Heuchelei oder begründeter Beistand?

ZELENYI HAI, UKRAINE - NOVEMBER 11: Cluster bomb carriers collected by Oleksandr Pashchenko (42) from his fields in a village Zelenyj Hai, Ukraine, 11th of November 2022
(Photo by Wojciech Grzedzinski ...
In diesen Raketen befinden sich beim Abschuss Hunderte Sprengsätze. Dieses Waffensystem nennt sich Streu- oder Clustermunition.Bild: The Washington Post

Ukraine: Kaum Debatte um Streumunition – Heuchelei oder begründeter Beistand?

31.07.2023, 15:2931.07.2023, 17:50
Joana Rettig / watson.de
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Februar 2022: Russland war keine drei Tage in die Ukraine eingefallen, da gab es bereits die ersten Berichte: «Einsatz von Streumunition»; «Mutmassliches Kriegsverbrechen».

Die Welt war schockiert. Viele Medien berichteten vom geächteten Waffensystem. Nach jedem russischen Angriff mit Streubomben – auch Clustermunition genannt – wiederholten sich TV- und Radiosender: Russland mache sich strafbar.

Was ist Streumunition?
Das Prinzip von Streumunition ist simpel: Man stelle sich einen Behälter vor, in dem viele kleine Bomben stecken. Der Behälter öffnet sich in der Luft und streut so die Submunition, sogenannte Bomblets, über das Ziel. Das Ergebnis: ein breit gefächertes Bombardement.

Diese «Behälter» kommen in diversen Arten vor: als Bomben (Streubomben), als Artilleriegranaten von Haubitzen verschossen (Kanistermunition) oder als Sprengköpfe von ballistischen Marschflugraketen. Im internationalen Fachjargon wird Streumunition auch «Clustermunition» genannt, die Bomblets «CBUs» (Cluster Bomb Units).

Doch so einfach war es von Anfang an nicht. Schon im Februar 2022 hatte der Schweizer Militär-Experte Niklas Masuhr gegenüber watson erklärt: Es sei möglich, dass auch die Ukraine Streumunition verwenden wird. Nun hat sich diese Prognose bestätigt.

Die Ukraine hat längst mit dem Einsatz von Clusterbomben begonnen. Diese hat das Land von den USA bekommen.

Und der Aufschrei ist – wenn überhaupt – überschaubar.

Experten erklären in Radiointerviews, dass der Einsatz gerechtfertigt sei, dass die Ukraine das Clusterabkommen von 2008 nicht unterschrieben habe – sich also nicht strafbar mache.

Das ist richtig. 2008 haben mehr als 100 Staaten die Streubomben-Konvention unterschrieben: ein Abkommen, das die Verwendung, Herstellung, Weitergabe und Lagerung von Streumunition verbietet. Weder Russland noch die Ukraine oder die USA sind Teil davon.

Warum aber haben wir Russland so deutlich verurteilt – die Ukraine hingegen nicht? Messen wir mit zweierlei Mass?

Wahrscheinlich schon, wie Experten auf watson-Anfrage erklären. Doch ob wir deshalb scheinheilig debattieren, ist fraglich.

Völkerrechtlich sind weder Russland noch die Ukraine für den Einsatz von Streumunition zu belangen. Wichtig ist das Ziel. Werden zivile Ziele beschossen oder wird in Kauf genommen, dass Zivilistinnen und Zivilisten verletzt oder getötet werden, könnte dies als Kriegsverbrechen gewertet werden. Dass Russland bewusst und auf brutale Weise zivile Ziele angreift, ist weithin bekannt.

Doch der Einsatz von Streumunition hat in diesem Zusammenhang wenig mit dem Verbrechen selbst zu tun. Denn: Die Regelung über die Angriffsziele gilt im Kriegsrecht auch für die Nutzung jedes anderen Waffensystems.

«Völkerrecht und die Ethik des Krieges sind nicht dasselbe», erklärt Militärethiker Florian Demont auf Anfrage von watson. Demont lehrt an der Militärakademie der Universität ETH Zürich.

Propaganda auch auf ukrainischer Seite

Dass die Ukraine von Kriegsverbrechen spricht, wenn Russland Clustermunition einsetzt, ist naheliegend. Denn wie Demont sagt, haben «alle Akteure ein starkes Interesse daran, in gutem Licht dazustehen und unterstützt zu werden». Bei der strategischen Kriegskommunikation würden daher sowohl Kriegsvölkerrecht als auch moralische Prinzipien des gerechten Krieges verwendet.

Ein Ork in Uniform. "Russischer Soldat: Rumtreiber, Vergewaltiger und Mörder" steht auf dem Plakat in Mykolajiw.
«Russischer Soldat: Rumtreiber, Vergewaltiger und Mörder» steht auf dem Plakat in Mykolajiw.Bild: watson/joana rettig

Propaganda und Parteiempfinden sind dabei Demont zufolge wesentliche Faktoren. Er sagt: «Es ist unrealistisch, anzunehmen, dass hier unparteiisch geurteilt wird.»

Lassen wir uns also manipulieren?

Natürlich dient es der Ukraine, wenn die Grundstimmung westlicher Länder ihnen gegenüber positiv und Russland gegenüber negativ ist, sagt Demont. Beide Parteien steuern demnach ihre Kommunikation so, dass sie zu ihrer Kriegsplanung passt. «Das ist aber noch keine Manipulation», sagt der Experte. «Zur Manipulation kommt es erst, wenn sich andere Parteien manipulieren lassen.»

Die eigentliche Frage ist also laut Demont, ob wir die Verantwortung für unsere Meinungsbildung wahrnehmen. Dabei müssten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir nicht frei von Sachzwängen und Beeinflussungsversuchen seien. «Wir sind in das Kriegsgeschehen involviert und müssen so denken und handeln, dass wir auf lange Sicht hin vorwurfsfrei bleiben.»

Klar ist, die Mehrheit der westlichen Bevölkerung stellt sich auf die Seite der Ukraine in diesem Angriffskrieg. Die Ukraine ist Opfer eines imperialistischen Machtstrebens – und das Land wehrt sich gegen seinen Angreifer. Interpretiert man Demonts Aussage so, dass wir als parteiische Beobachterinnen und Beobachter agieren, ist es nur zu verständlich, dass wir unserer Partei Fehltritte verzeihen.

Ähnliches gilt dann auch für den Einsatz von Streumunition – den im Übrigen eine Mehrheit der Deutschen ablehnt.

Im Auftrag von watson hat das Meinungsforschungsunternehmen Civey 5000 Menschen gefragt, ob sie den Einsatz von Streumunition angebracht finden. 67 Prozent der Befragten finden den Einsatz unangebracht. 18 Prozent halten ihn für angebracht.

Auch interessant: Mehr als ein Fünftel der Befragten (22 Prozent) findet, dass sich die Angemessenheit des Einsatzes von Streumunition unterscheidet, je nachdem, welche Seite sie nutzt.

TORETSK, UKRAINE - DECEMBER 18: The remains of artillery shells and missiles including cluster munitions are stored on December 18, 2022 in Toretsk, Ukraine. Inhabitants living on the frontline on the ...
Toretsk in der Region Donezk: Unter den Artilleriegeschossen befinden sich auch die Projektile von Clusterbomben.Bild: Getty Images Europe

Die Frage nach der Scheinheiligkeit ist laut dem Vorsitzenden des deutschen Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften, Martin Elbe, sehr berechtigt. «Und tatsächlich scheint hier mit zweierlei Mass gemessen zu werden», schreibt der Militärethiker auf Anfrage von watson.

Doch es kommt auf die Perspektive an.

Alles eine Frage der Abwägung. Gesinnungsethik trifft auf Verantwortungsethik. Heisst: Durch den Einsatz von Streumunition vermischen sich zwei Grundsatzprinzipien der Militärethik. Der Waffeneinsatz gilt nach der Abwägung als zielführend und gerechtfertigt – das ist der gesinnungsethische Anteil. Führen die ukrainischen Streitkräfte tatsächlich nur Einsätze gegen militärische Ziele durch, sei auch der verantwortungsethische Anteil gegeben.

Reznikov erklärt Streumunition-Auflagen

Elbe sagt: «Die Beurteilung der Frage, ob hier mit zweierlei Mass gemessen wird, hängt offensichtlich vom Messinstrument ab – und davon, wohin man damit blickt.»

Die Ukraine hat in Sachen Streumunition Zusagen gemacht – und sich selbst Auflagen gegeben. Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hatte diese bei Twitter veröffentlicht:

  • Einsätze nur in der Ukraine zur Rückgewinnung ihres Territoriums
  • Kein Einsatz in städtischen Bereichen
  • Jeder Einsatz wird dokumentiert
  • Minen werden später geräumt
  • Einsätze werden den Partnern gemeldet

Bei der Minenräumung wird es aber komplex. Nicht explodierte Bomblets graben sich oft in den Boden ein. Wo und wie viele Bomblets vergraben sind, wird auch nach Kriegsende nie genau definiert werden können.

Diese Tatsache steht laut dem Militärethiker Demont im Spannungsverhältnis zur Haltung westlicher Militärkulturen, die eine «chirurgische Präzision bevorzugen, um militärische Ziele zu erreichen». Dabei geht es eben darum, die Konsequenzen militärischer Gewalt möglichst genau zu kontrollieren. Er sagt:

«Die Forderung nach chirurgischer Präzision und nach Kontrollierbarkeit der Folgen militärischer Gewaltanwendung hat aus ethischer Sicht damit zu tun, dass man mit militärischen Mitteln eine Basis für eine baldige, solide Friedensordnung schaffen will. Die Anwendung von Clustermunition weicht diese Zielvorgabe aber dahingehend auf, dass man Durchschlagskraft auf Kosten der Präzision und der Kontrollierbarkeit aufgibt.»

Dann wären da noch die Blindgänger. Eine solide Friedensordnung könne mit ihnen kaum gegeben sein, «weil auf lange Sicht hin Gefahren für das zivile Leben nach dem Konflikt geschaffen werden».

Die Ukraine zahlt also einen hohen Preis für den Einsatz einer geächteten Waffe. Hat man Kosten und Nutzen sorgsam abgewogen? Demont sagt: «Der Preis für eine höhere militärische Effizienz wird in diesem Fall durch eine teilweise Absage an eine friedliche Nachkriegsordnung bezahlt. Vor dem Hintergrund eines Kampfes für die Freiheit ist das eine besorgniserregende Entwicklung.»

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125 Kommentare
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Franz v.A.
31.07.2023 16:02registriert August 2019
Die Russen haben schon zu Beginn des Krieges diese Munition in Städten und Dörfern eingesetzt.
Damals hat sich kaum jemand entsetzt darüber. Nun wird die UA deswegen kritisiert und in den Medien zerrissen.
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Max Dick
31.07.2023 16:15registriert Januar 2017
Ich würde es entsetzlich finden, wenn überhaupt eine Debatte über den Einsatz von Streumunition seitens Ukraine stattfinden würde. Wer in diesem Krieg der Aggressor ist und wer das Opfer, ist so offensichtlich wie noch selten in einem Krieg der letzten 80 Jahre. Und dass sich das Opfer im allerallermindesten mit jenen Waffentechnologien verteidigen kann, die der Angreifer auch nutzt, ist sowas von selbstverständlich.
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Die Geschichte wiederholt sich...
31.07.2023 15:55registriert Februar 2022
Ein sehr interessanter Artikel. Was allerdings auch erwähnenswert ist, ist die hohe detonationsrate der modernen US-Streumunition, bei der es viel weniger Blindgänger gibt, als bei den Russischen. Zudem will die Ukraine ihre Ländereien ja befreien und hat daher einen ganz anderen Ansatz als die Russen, die jüngst nur noch auf Zerstörung aus sind, da sie gemerkt haben, dass ihre propagierten Brüder sich nicht einfach so in die Putinsche-Diktatur eingliedern lassen.
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