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Russland

Ein russischer Ex-Soldat berichtet jetzt von seiner Flucht

Russischer Deserteur berichtet von seiner Flucht: «Alles um uns herum färbte sich rot»

Von aussen ist wenig zu hören, wie es den russischen Soldaten im Krieg gegen die Ukraine geht. Ein russischer Ex-Soldat berichtet jetzt von seiner Flucht.
30.07.2023, 21:4430.07.2023, 22:08
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Ein Artikel von
t-online

Seit mehr als 500 Tagen wütet der Krieg in der Ukraine. Nachrichten aus dem Krieg gehören beinahe schon zum Alltag – und doch ist uns nicht alles bekannt. Besonders über die Anfänge des Krieges und die russische Perspektive weiss man im Westen nur wenig.

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Zerstörte Gebäude in Kiew: In den ersten Kriegsmonaten hatten russische Soldaten versucht, die ukrainische Hauptstadt zu erobern.Bild: keystone

In einem Interview mit der russischen Tageszeitung «Novaya Gazeta Europe» – einer der wenig verbliebenen unabhängigen russischen Medien – berichtet der ehemalige russische Soldat Kamil von seinen Erfahrungen in der russischen Armee als der Krieg begann.

Kamil sah sich als «Komplize dieser Verbrechen»

Kamil war eigenen Angaben zufolge in der Raketenabteilung in der russischen Armee Ende 2021 wurde er in das russische Nachbarland Belarus verlegt: «Ende 2021 sind wir nach Belarus zu militärischen Übungen gefahren». Laut Kamil habe es schon diesem Zeitpunkt Gerüchte gegeben, dass die Armee bald in den Kriegen ziehen würde.

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Zerstörte Autos in Kiew nach russischen Angriffen.Bild: keystone

«Es wurde darüber gesprochen, dass an der Grenze etwas im Gange war und bewaffnete Konflikte wahrscheinlich waren. Jeder musste darauf vorbereitet sein.» Zu diesem Zeitpunkt soll Kamils Kommandant ihn gefragt haben: «Kannst du dich moralisch darauf einlassen, an einem bewaffneten Konflikt teilzunehmen?»

Einige Monate später kam es tatsächlich dazu. Kamil erinnere sich noch lebhaft an den ersten Raketenstart am 24. Februar 2022, kurz vor fünf Uhr morgens. «Alles um uns herum färbte sich rot», erzählt er. Raketen seien in die Höhe geschossen und Richtung Süden [Richtung Ukraine] geflogen. Ein Kamerad habe ihm erklärt, dass der Krieg nun begonnen habe, erinnert sich Kamil.

Kamils Flucht

Kamil und seine Einheit hätten Informationen aus offiziellen und inoffiziellen Quellen erhalten. Es hiess, dass die russischen Einheiten nicht eroberten mussten, sondern das ukrainische Gebiet «einfach passiert» hätten. In der Truppe habe sich herumgesprochen, dass die «Kiewer Regierung bald kapitulieren würde», berichtet Kamil im Gespräch mit «Novaya Gazeta Europe».

Über Verluste oder Verbrechen im Krieg wurde dagegen nicht geredet, so hätten seine Kameraden ausschliesslich über angebliche Erfolge berichtet. Kamils Kameraden zufolge seien in den ersten Kriegswochen bereits alle «ukrainischen Luftverteidigungssysteme» und alle «strategisch wichtigen Militärziele» ausgelöscht worden. Tatsächlich hatte Russland bereits in den ersten Kriegstagen grössere Probleme, als es der Kreml und auch zahlreiche Experten etwa angenommen hatte. So war der Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew etwa nicht erfolgreich.

Für die Zerstörung, welche die russische Invasion nach sich zog, sei allein die Kiewer Regierung verantwortlich gemacht worden. Kamil habe beim Anblick der Bilder allerdings bemerkt, dass auch er für die Angriffe mitverantwortlich war: «Mir wurde klar, dass ich buchstäblich ein Komplize dieser Verbrechen war.»

Dies sei auch der Grund gewesen, weshalb Kamil sich dazu entschied zu desertieren. Nach einem halben Jahr an der Front sei er in den Urlaub entlassen worden – dort habe er zur Flucht angesetzt. Die russische Organisation «Идите лесом» (zu Deutsch: «Gehe durch den Wald») habe Kamil dabei geholfen. Sein Fluchtweg habe über Belarus nach Kasachstan geführt.

Kamil selbst plane nicht vor dem Ende des «Putin-Regimes» nach Russland zurückzukehren – auch aus Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen seiner Flucht. Auch zu seinen Kameraden an der Front habe er keinen Kontakt mehr, jedoch wünsche er sich, dass «diejenigen, die immer noch in der Armee sind, eine Möglichkeit finden, zu einem normalen Leben zurückzukehren».

(t-online, lec)

Verwendete Quellen:

  • novayagazeta.eu: "Я буквально соучастник этих преступлений" (russisch)
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20 Kommentare
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Rivka
30.07.2023 23:58registriert April 2021
Ganze Generationen wurden und werden traumatisiert. Und wofür das alles? Weil ein seniler alter Mann seine verkackte Weltordnung wiederherstellen will. 😤
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Andi Weibel
31.07.2023 00:36registriert März 2018
Je mehr Russen den Kriegsdienst verweigern, desto besser. Es ist eine Schande, dass die Schweiz Deserteuren konsequent verweigert, hier Asyl zu erlangen.
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Der Micha
31.07.2023 10:14registriert Februar 2021
"....jedoch wünsche er sich, dass «diejenigen, die immer noch in der Armee sind, eine Möglichkeit finden, zu einem normalen Leben zurückzukehren"

Dafür ist es ehrlich gesagt zu spät. Jeder Soldat muss für seine Kriegsverbrechen gerade stehen. Die Ukrainer wollen auch wieder ein normales Leben haben. Aber die Abschlachtung der Zivilisten haben viele Familien zerstört.
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