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Russin: «Wenn man einmal in der Falle sitzt, gibt es keinen Ausweg mehr»

Die Russin Valeriia Beliaeva arbeitet an der ETH Zürich.
Die Russin Valeriia Beliaeva arbeitet an der ETH Zürich.Bild: watson

Russin: «Wenn man einmal in der Falle sitzt, gibt es keinen Ausweg mehr»

Am Mittwochmorgen verkündete Putin, dass 300'000 Reservisten für eine Teilmobilmachung einberufen werden. Die Russin Valeriia Beliaeva arbeitet an der ETH in Zürich und versucht, ihren Landsleuten zu helfen, den Marschbefehl zu umgehen.
24.09.2022, 13:4025.09.2022, 19:22
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«Meine Familie in Russland versteht erst seit dieser Woche, wie ernst die Situation ist», sagt Valeriia Beliaeva, die an der ETH Zürich in Neurowissenschaften doktoriert. Seitdem Putin am Mittwochmorgen die Teilmobilmachung von 300'000 Reservisten angekündigt hat, herrscht grosse Angst in Russland.

Plötzlich droht vielen Männern im wehrfähigen Alter ein Einsatz im Ukraine-Krieg. «Meine ehemaligen Klassenkameraden werden rekrutiert. Viele von ihnen sind absolut in Panik deswegen», erzählt Beliaeva. Die russische Doktorandin lebte schon vor dem Kriegsausbruch in der Schweiz. Viel kann sie von hier aus nicht tun für ihre Freunde und Familie in der Heimat.

«Aber ich versuche, ihnen mit verschiedenen Medien und Informationsquellen zu helfen», sagt die junge Frau. Seit der Ankündigung der Teilmobilmachung hat Beliaeva sich einer Aufgabe verschrieben: Sie möchte ihren Freunden und Bekannten in Russland aufzeigen, wie sie die Einberufung umgehen können. «Es gibt einige Möglichkeiten, doch die sind fast alle illegal».

FLÜCHTEN

Einfach sei es nicht, aus Russland zu flüchten. Flugzeuge ins Ausland hat es so gut wie keine mehr, zudem sind praktisch alle ausgebucht. «Von 83 Regionen in Russland haben am Donnerstag bereits 3 ein Gesetz unterzeichnet, dass es Männern, die eingezogen werden könnten, verunmöglicht, seine Region zu verlassen», erklärt Beliaeva. Es werde nicht mehr lange dauern, bis das russlandweit so sei.

Viele Männer versuchen deshalb, mit dem Auto zu flüchten und illegal auszureisen. «Ich habe von Leuten gehört, die es geschafft haben. Sie haben Russland verlassen, indem sie sich auf dem Autorücksitz unter einer Decke versteckt haben.» Nach Finnland, Kasachstan und Georgien könne man auf diese Art noch einreisen, weiss die ETH-Mitarbeiterin. «Wer kein Auto hat, sollte am besten versuchen, sich bei jemandem zu verstecken», sagt Beliaeva.

Russische Männer verlassen das Land nach der Teil-Mobilmachung

Video: watson/lucas zollinger

VERSTECKEN

«Einige meiner Freunde, die den Marschbefehl erhalten haben, verstecken sich bei entfernten Verwandten oder Freunden, deren Adresse nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden kann». Das russische Militär werde keine Ressourcen verschwenden, sich auf die Suche nach verschollenen Reservisten zu machen, ist Beliaeva überzeugt. Eher greife die Polizei und das Militär auf offener Strasse Männer im wehrfähigen Alter auf, um sie zur Mobilisierungsstation zu bringen.

KRANK MELDEN

Eine andere Option sei, den Gesundheitszustand zu verfälschen. «Ich weiss von Fällen, die nicht einrücken mussten, weil sie HIV-positiv waren», erklärt die junge Russin. Aber auch ein gebrochener Arm oder ein Bein sei anscheinend ein Ausschlusskriterium – am besten komplett eingegipst.

«Wenn man ein Arzt kennt, der einem einen falschen Gips anfertigt, ist das vorübergehend eine Lösung, um dem Marschbefehl zu entgehen», erläutert Valeriia Beliaeva. Für wen das alles zu riskant sei, der habe noch die Wahl, den offiziellen Weg zu gehen.

ANWALTLICH VORGEHEN

«Das Schlimmste ist für mich, dass viele Leute eine Sache nicht verstehen: Sie haben die Wahl, nicht in den Krieg zu ziehen», sagt Beliaeva. Grundsätzlich hiess es, entweder man rückt ins Kriegsgebiet ein oder geht ins Gefängnis. Bis zu 3 Jahre, wenn man sich weigert, am Krieg teilzunehmen und bis zu 10 Jahre, wenn man eine Desertion begeht. So einfach sei dies jedoch nicht.

Riot police detain demonstrators during a protest against mobilization in Moscow, Russia, Wednesday, Sept. 21, 2022. Russian President Vladimir Putin has ordered a partial mobilization of reservists i ...
Moskau: Wer in Russland wegen der Teilmobilmachung demonstriert, riskiert, verhaftet zu werden. Bild: keystone

«Wer den Einsatz verweigert, kann mit einem guten Anwalt vor Gericht viel bewirken.» Wenn sich die meisten Männer für diesen Weg entscheiden würden, könnte auch das System nicht mehr alle ins Gefängnis schicken, meint die Russin. Doch es gebe noch ein anderes grosses Problem, warum viele trotzdem einrücken. «Sie werden angelogen», ist sich Beliaeva sicher.

KRIEGSGEFANGENER

«Ich habe von Bekannten erfahren, dass einigen Männern versichert wurde, sie müssen im Kriegsgebiet nicht an die Front und kämpfen», sagt die Russin. Den angehenden Soldaten werde noch in Russland gesagt, dass man sie nur für einfache Aufgaben benötige, wie zu kochen oder um Administratives zu erledigen. In den umkämpften Gebieten angekommen, sehe dann alles plötzlich alles anders aus.

«Wenn man einmal in der Falle sitzt, gibt es keinen Ausweg mehr.» Dann habe man nur noch eine Option, um nicht tagtäglich für sein Überleben zu kämpfen. «Man kann sich auf dem Schlachtfeld den ukrainischen Streitkräften ergeben und ihnen signalisieren, dass man aufgibt», erklärt Beliaeva. Die Ukraine nehme sie dann als Kriegsgefangene.

«Die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Iryna Vereshchuk hat etwas garantiert. Wer der Ukraine mitteilt, dass man nicht zurückgeschickt werden möchte nach Russland, der wird auch nicht zurückgeschickt – nachdem man sich ergeben hat.» Man komme in ein ukrainisches Gefängnis, wo es einem besser ergehe als in einem russischen, findet die ETH-Doktorandin.

Wladimir Putin YEREVAN, ARMENIA - 1 OCTOBER 2019: Russian President Vladimir Putin attends a meeting of the Supreme Eurasian Economic Council in Yerevan, Armenia.
Kritik in der Bevölkerung wächst: Russlands Präsident Wladimir Putin.Bild: shutterstock.com

Freiwillig zurück

Valeriia Beliaeva ist froh, dass sie in der Schweiz lebt und für sich keine Lösungen suchen muss, um einem Marschbefehl zu entgehen. Dennoch möchte die junge Russin wegen ihrer Familie bald wieder zurück in ihre Heimat reisen. «Nach meiner Doktorarbeit, im Frühling, will ich für ein Jahr zurück nach Hause», sagt Beliaeva. Sie wisse noch nicht, wie sie in ihre Heimatstadt einreisen könne, aber sie werde einen Weg finden.

Putin werde dann wahrscheinlich noch immer Präsident Russlands sein. Aber auch wenn nicht, so ändere sich das System von allein nicht. «Wenn diese Situation der Bevölkerung eines gezeigt hat, dann, dass sie sich in der Politik mehr beteiligen und die Regierung besser kontrollieren müssen». Denn wie ernst die Situation selbst für die Russen ist, verstehen viele von ihnen Tag für Tag besser.

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160 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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DerRabe
24.09.2022 14:16registriert Juli 2014
Zeigt schon ein wenig, was mit der russischen Bevölkerung nicht stimmt: Das Morden in der Ukraine war solange kein Thema für viele, als dass es sie noch nicht betroffen hat. Erst jetzt stört man sich daran.
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Liebu
24.09.2022 14:04registriert Oktober 2020
Putin wollte Europa ja mit Flüchtlingen fluten um Chaos anzurichten.
Damals hat er aber wohl nicht gedacht, das es seine Landsleute sein werden, die vor der Teilmobilmachung und seinem Regime flüchten.
Auch hier hat er sich verspekuliert. Aber es läuft alles nach Plan.
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stoneTruth
24.09.2022 14:01registriert März 2022
Die 300 000 könnten ja vor den Kreml ziehen und dort eine Palastrevolution durchführen.
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