Nun ist die Reihe an der Verteidigung. Nach zehn Tagen hat die Anklagebehörde am Freitag die Beweisführung im Prozess gegen Ghislaine Maxwell, die langjährige Weggefährtin des verstorbenen Sexualverbrechers und Financiers Jeffrey Epstein, abgeschlossen. Fünf Erkenntnisse über die erste Phase des Verfahrens vor einem Bundesgericht in New York.
Die New Yorker Staatsanwaltschaft wirft Maxwell vor, Epstein als Zuhälterin gedient und dem Sexualstraftäter minderjährige Opfer zugeführt zu haben. Um diesen Vorwurf vor den Geschworenen belegen zu können, rief die Anklage vier Opfer Epsteins in den Zeugenstand. Diese verwickelten sich aber in Widersprüche, wenigstens aus der Sicht der Verteidigung. So wiesen Maxwells Anwälte auf zeitgenössische Einvernahmeprotokolle oder Tagebucheinträge hin, in denen die Opfer nur über Epstein sprachen, aber nicht über Maxwell.
Ein Prozess vor Bundesgericht hat mit einer Gerichtsshow im Fernsehen zwar wenig gemein; Staatsanwälte sind aber erfolgreich, wenn sie den Geschworenen eine überzeugende Geschichte erzählen können. Das ist der Anklagebehörde in den vergangenen zwei Wochen nicht gelungen. So wirkten wichtige Zeugen der Anklage seltsam unvorbereitet. Das mag letztlich keine Rolle spielen, falls die Geschworenen den furchtbaren Opfer-Geschichten Glauben schenken; aber Urteile vor Bundesgericht müssen einstimmig ausfallen. Für die Verteidigung wäre es also bereits ein Erfolg, wenn sie einen einzigen Geschworenen von der Unschuld Maxwells überzeugen könnte.
Klar: Vor Gericht steht Maxwell, heute 59 Jahre alt, und nicht Epstein, der im Sommer 2020 in einem New Yorker Gefängnis im Alter von 66 Jahren starb. Aber die beiden waren, zumindest in den Neunzigern, ein Paar: Sie nächtigten angeblich im gleichen Schlafzimmer eines Stadthauses in New York, und sie verwaltete für ihn auch die zahlreichen Liegenschaften, die er besass. Also wäre es nur folgerichtig gewesen, wenn die Anklagebehörde etwas Licht auf Epstein geworfen hätte. Wie verdiente er sein Geld? Warum flog er ständig um die Welt? Und: Umgab er sich tatsächlich mit dem Reichen und Schönen dieser Welt? Sämtliche dieser Fragen blieben bisher vor Gericht unbeantwortet.
Apropos Reiche und Schöne: In den ersten zwei Wochen des Prozesses gegen Maxwell fielen vor Bundesgericht in New York die Namen Prinz Andrew, Bill Clinton und Donald Trump. Ein ehemaliger Pilot Epsteins sagte, er habe dessen Privatflugzeugen regelmässig Promis transportiert. Das ist zwar «bad news» für die genannten Personen – konnte doch, wer sehen wollte, wissen, dass Epstein sich mit auffällig jungen Frauen (und Mädchen) umgab.
Aber Prinz Andrews & Konsorten stehen nicht vor Gericht. Über eine mögliche Mittäterschaft einflussreicher Menschen, mit der sich vielleicht auch erklären liesse, warum Epstein derart lange ungeschoren davonkam, wurde deshalb vor Bundesgericht nicht spekuliert. So verzichtete die Anklage darauf, Virginia Roberts in den Zeugenstand zu rufen: Die heute in Australien lebende Frau sagt, Prinz Andrew habe sie vergewaltigt.
Die zentrale Frage in der zweiten Prozesshälfte lautet: Wird Ghislaine Maxwell in den Zeugenstand treten? Normalerweise raten Anwälte ihren Klientinnen von einem solchen Schritt ab. Aber Maxwell könnte versucht sein, sich über diesen Ratschlag hinwegzusetzen – weil sie das Gefühl hat, von der Justiz für die Verbrechen Epsteins zur Verantwortung gezogen zu werden. Das wäre eine hochriskante Entscheidung.