In der Regel neigen Strippenzieher in der Politik nicht dazu, übergrosse Erwartungen zu schüren. Vor der Rede zur Lage der Nation war das anders. Da überboten sich die Experten nahezu stündlich mit Superlativen zur Bedeutung des Auftritts von US-Präsident Joe Biden. «Es steht viel auf dem Spiel», räumte selbst Bidens Stabschef im Weissen Haus, Jeff Zients, ein. «Die Reden zur Lage der Nation sind immer wichtig, aber diese Rede ist ganz besonders wichtig», sagte er dem US-Magazin Politico.
Eine Sache machte Bidens Auftritt besonders. Denn laut Politikexperten ging es nicht nur um das, was der Präsident sagte, sondern vor allem wie er es sagte. Wie würde er rüberkommen? Würde er sich versprechen, einen Namen verwechseln oder gar schon auf dem Weg zum Rednerpult stolpern, wie es ihm bereits mehrfach bei anderer Gelegenheit passiert ist? Es ging kurz gesagt um die Frage, ob sich dort ein Mann präsentierte, der noch vier weitere Jahre fit für das wichtigste und wohl auch anstrengendste Amt der Welt ist.
Grösser hätte der Druck also kaum sein können für den 81-jährigen Demokraten. Und er hielt ihm stand. «Energetisch und optimistisch», so lauteten die ersten Einschätzungen von Experten kurz nach der Rede. Biden hatte die grossen Erwartungen nicht enttäuscht. Er hatte geliefert.
Der Präsident brauchte zwar lange, um bis zum Rednerpult zu kommen, aber nur weil er sich sehr viel Zeit nahm, um bei seinem Einzug in den Kongress mit den Abgeordneten beider Parteien zu sprechen, Selfies mit Parlamentariern zu machen und viele Hände zu schütteln. Biden gab sich als Präsident zum Anfassen. «Four more Years», schallte es aus dem Plenum («vier weitere Jahre»). Ein warmer Empfang.
Sofort liess Biden seinen Charme spielen. Er begann seine Rede mit einem Scherz:
Dann schaltete er gleich auf Attacke. «Die Demokratie ist unter Beschuss, Zuhause und in Übersee», sagte er. Wen er dafür verantwortlich macht, sagte er auch: Putin und Donald J. Trump, den er im Laufe seiner Rede nicht beim Namen nannte. Biden sprach lediglich von «meinem Vorgänger».
Putin sprach er hingegen direkt an, und er schickte eine Warnung nach Moskau:
«Wenn wir der Ukraine beistehen und ihr weiter Waffen liefern.» Eine Botschaft an die Republikaner, die im Kongress seit Monaten die milliardenschweren amerikanischen Ukrainehilfen blockieren. Biden sagte:
Frenetischer Jubel seiner Parteianhänger brandete auf, sogar der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses nickte zustimmend – dabei sorgt er gerade für die Blockade der Ukrainehilfen im Parlament. Auf Trumps Geheiss.
Den nahm sich Biden als Nächstes vor. Der Präsident geisselte den Putschversuch gegen die Demokratie am 6. Januar 2021 und verwies mehrfach auf die unrühmliche Rolle seines Vorgängers. «Einen Anschlag auf die Freiheit», nannte er den gewaltsamen Kapitolsturm. «Politische Gewalt hat keinen Platz in einer Demokratie», so Biden.
Trump wurde von Biden auch bei anderen Themen hart angegangen wie etwa beim Abtreibungsrecht.
Er versprach, wenn er wiedergewählt werde, werde er sich für die Wiederherstellung des Abtreibungsrechts einsetzen.
Biden rekapitulierte die Leistungen seiner Regierung, die Erneuerung der Infrastruktur, aber vor allem das Jobwunder, das er in den vergangenen Jahren geschaffen habe. «Aber es braucht Zeit, bis das bei den Menschen auch spürbar ankommt.»
Eine Bemerkung, die auf die wachsende Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei Teilen der Wählerschaft anspielte. Obwohl die Wirtschaft brummt, haben es die Republikaner unter Trump bislang erfolgreich geschafft, die Leistungen der Biden-Administration kleinzureden und den Finger auf die Inflation zu legen, eine der wenigen Kennziffern, wo Bidens Regierung nicht so gut dasteht. Der Demokrat verwies darauf, viele Arbeitsplätze geschaffen zu haben, und zwar vor allem solche, für die man keinen Hochschulabschluss benötige. Ein Schlüsselsatz von Biden in Bezug auf eine wichtige Wählergruppe.
Er wandte sich explizit an die «working people», an die Arbeiter und jene Menschen ohne höheren Bildungsabschluss – eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Wählergruppe bei dem kommenden Urnengang im November.
Das hatte der linke Senator Bernie Sanders explizit gefordert.
Sanders hatte den Präsidenten zuvor ermahnt, nicht nur die eigenen Leistungen zu feiern, sondern vielmehr eine Vision für all jene zu skizzieren, die sich von der aktuellen Regierung noch nicht ausreichend vertreten fühlen. In einem vertraulichen Gespräch zwei Tage vor Bidens Rede forderte der 82-jährige Senator aus Vermont den Amtsinhaber auf, die Frustration bei breiten Schichten der Wähler zu adressieren, anstatt sich allzu sehr selbst zu feiern, wie die «Washington Post» berichtete.
In einem Auftritt bei Talkmaster Stephen Colbert am Abend zuvor, hatte Sanders sich äusserst kritisch etwa über die hohe Rate der Kinderarmut in den USA gezeigt, auch geisselte er den Mindestlohn von 7,25 Dollar als viel zu niedrig. Ein weiteres Thema, das Sanders ansprach, war die Gesundheitsversicherung, in deren Genuss immer noch nicht alle Amerikaner kommen – dabei war dies eins der zentralen Wahlkampfversprechen Bidens gewesen. Und Biden lieferte.
Biden sagte:
500 Milliarden Dollar könnten etwa durch eine höhere Besteuerung der Reichen eingenommen werden. «Stellen sie sich vor, was das für Amerika bedeuten könnte», sagte Biden. Dann zählte er auf, welche sozialen Wohltaten man mit dem Geld finanzieren würden. Mehrfach wandte er sich direkt an die republikanische Mehrheit im Kongress und forderte sie auf, einem entsprechenden Gesetz zuzustimmen und stellte seine Schlagfertigkeit unter Beweis: «Wie kann man dazu denn nein sagen?», frotzelte er in Richtung der Konservativen, die bekanntermassen von solchen Plänen gar nichts halten.
Der streitbare Senator aus Vermont sass ebenfalls im Publikum bei der Rede zur Lage der Nation. Er klatschte oft. Offenbar war er zufrieden mit Bidens Auftritt, denn der machte einige weitgehende Versprechungen für den Fall seiner Wiederwahl. Er skizzierte eine politische Vision, Kern dieser Vision war soziale Gerechtigkeit.
Biden kündigte zudem massive Investitionen in Bildungsreformen an, er versprach den Studenten weitere Studienkrediterlasse, den Ausbau der Krankenversicherungen und Steuererleichterungen für die wichtigen, wenn nicht die entscheidende Wählergruppe bei der kommenden Wahl im November.
Bidens Herausforderer Donald Trump hat den US-Präsidenten in den jüngsten Umfragen überholt, beim Super Tuesday konnte der Republikaner einen fast makellosen Sieg einfahren, die Kandidatur seiner Partei ist ihm sicher und die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung für Trump wächst. Biden sehen viele Amerikaner dagegen immer kritischer.
Der US-Präsident steht vor allem wegen seiner Nahostpolitik unter Druck, die manche Amerikaner für zu israelfreundlich halten. Wie sehr ihn dies Stimmen jüngerer und vor allem liberaler Wähler kosten könnte, zeigte die Rede zur Lage der Nation ebenfalls. Denn im Vorfeld demonstrierten in der Hauptstadt Washington DC zahlreiche Menschen gegen die Politik Bidens im Konflikt zwischen Israel und der terroristischen Hamas.
Mehr Hilfslieferungen an die Menschen im Gazastreifen versprach Biden, zugleich verwies er auf die Bemühungen seiner Regierung um einen Waffenstillstand zwischen Israelis und Palästinensern. Allerdings betonte er auch das Existenzrecht Israels und das Recht auf Selbstverteidigung, er verwies auf die grausamen Terroranschläge der Hamas. Dieser Teil der Rede war ausgewogen, doch einigen ging er wohl nicht weit genug. Layla Elabed, die eine Anti-Biden-Kampagne im US-Bundesstaat Michigan anführt, sagte dem Sender NBC News nach der Rede:
Auch auf ein anderes Thema ging Biden ein, das im Wahlkampf eine zentrale Rolle spielen wird: die Situation an der Grenze zu Mexiko, wo jeden Tag Migranten aus Mittel- und Südamerika ankommen. Trump piesackt die Demokraten seit Monaten mit dem Thema Migration, ohne Hemmungen prügelt er verbal auf Einwanderer ein, beschimpft illegale Zuwanderer bei nahezu jeder Gelegenheit und attackiert sie mit einem diskriminierenden Vokabular, das selbst für einen Rechtspopulisten ungewöhnlich ist.
Ganz anders Biden. Er verwies auf ein bereits ausgearbeitetes Gesetzespaket, das Demokraten und Republikaner in den vergangenen Monaten nach harten Verhandlungen geschnürt hatten. Das dann aber, ebenfalls auf Trumps Intervention, im Parlament auf Eis gelegt wurde. Die Republikaner wollen dem demokratischen Präsidenten vor der Wahl keinen Erfolg in dieser für ihre Wählerschaft wichtigen Frage gönnen. Biden wagte hingegen einen weiteren Versuch, sich über die Parteigrenzen hinweg als Vermittler und Versöhner zu zeigen. «Wir haben eine einfache Wahl», sagte er mit Blick auf das Immigrationsgesetz.
Auf diesem Ton liess der amerikanische Präsident gegen Ende seiner Rede auch ausklingen. «Ich möchte euch daran erinnern, wir können Grosses schaffen», appellierte er an das gesamte Plenum. Und wir werden es schaffen!" Immer wieder wandte er sich mit spontanen Äusserungen an die Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Er charmierte, er witzelte, er zeigte sich hellwach. So einnehmend, wie er sich stellenweise gab, so scharfzüngig konnte er sein. Biden liess keine Gelegenheit aus, die Republikaner anzugreifen und sie für ihre isolationistische Politik zu schmähen.
Ganz zum Schluss ging der 81-Jährige dann noch auf die Debatte ein, die so viele Wähler beschäftigt: sein Alter. Anstatt das Thema zu umschiffen, griff er es lustvoll auf und stellte dabei einmal mehr seine Fähigkeit zur Selbstironie unter Beweis. Er sagte:
Um dann hinzuzufügen:
Biden stellte sein fortgeschrittenes Alter als Vorteil heraus. Er deutete eine vermeintliche Schwäche zur politischen Stärke um.
Er mahnte im Rückgriff auf uramerikanische Werte auch dazu, alle gleich zu behandeln, egal ob jung oder alt. Und dann erneuerte er sein Versprechen, das er bereits in seiner Inaugurationsrede vor vier Jahren gegeben hatte: «Ich werde Präsident aller Amerikaner sein, denn ich glaube an Amerika!»
Als Biden nach seiner Rede durch den Saal ging, passierte etwas, mit dem wohl wenige gerechnet hatten. Nun klatschte auch ein Teil jener Republikaner, der ihn vor der Rede noch mit demonstrativer Kühle empfangen hatte. Es schien, als hätte der Präsident einen Nerv getroffen - über Parteigrenzen hinweg. «Das war eine der stärksten Performances, die ich von Joe Biden gesehen habe», sagte David Plouffe, ehemalige Kampagnenmanager von Ex-Präsident Obama im Sender NBC.