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Was die US-Wahlen für den Krieg in der Ukraine bedeuten

Düstere Aussichten für die Ukraine: Was die US-Wahlen für den Krieg bedeuten

Viele Ukrainer haben das Vertrauen in den Westen und dessen leere Hilfsversprechungen verloren. Für sie spielt es keine Rolle mehr, ob in den USA Trump oder Harris das Rennen macht.
04.11.2024, 09:52
Kurt Pelda, Odessa / ch media
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Die Dichte der Strassensperren in der Westukraine ist beeindruckend und erinnert ein bisschen an die ersten Wochen nach der russischen Invasion. Damals fahndeten Polizei und Armee nach russischen Spionen und Saboteuren. Heute geht es an den Kontrollposten vor allem um die Zehntausenden von Fahnenflüchtigen und Wehrpflichtverweigerern.

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Allerheiligen in der Ukraine: Eine Frau zündet Kerzen für im Abwehrkampf gegen Russland gefallene Soldaten an.Bild: keystone

Die Bewaffneten an den Sperren verfügen über Tablet-Computer, die über das Mobilfunknetz mit einer zentralen Datenbank verbunden sind. Anhand der dort gespeicherten Informationen und den von Reisenden vorgelegten Dokumenten können die Uniformierten entscheiden, ob Männer ab 25 Jahren ihre Registrierungspflicht eingehalten haben oder nicht. Ausserdem sollen die Strassensperren in der Nähe der Aussengrenzen zu EU-Staaten verhindern, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land verlassen.

Wladislaw*, ein junger Soldat einer Drohneneinheit, sagt, dass die meisten seiner gleichaltrigen Kameraden die Flucht ergreifen würden, wenn es diese Option denn wirklich gäbe. Anatol*, ein freischaffender Journalist, stimmt dem zu. Er hat panische Angst, eingezogen zu werden, und würde alles tun, um in den Westen zu fliehen. Aber das ist nicht so einfach – nicht zuletzt wegen der vielen Kontrollposten. Auch der Fluss Theiss an der Grenze zu Rumänien ist eines von vielen Hindernissen. Dort sollen schon mehr als dreissig Ukrainer beim Fluchtversuch ertrunken sein.

Droht ein Diktatfrieden?

Viele Menschen im Westen haben noch nicht begriffen, was auf sie zukommt, wenn Russland den Krieg in der Ukraine gewinnt. Dass es nach 2022 bis jetzt nicht zu einer zweiten grossen Fluchtwelle gekommen ist, hat auch mit den Kontrollen an den ukrainischen Westgrenzen zu tun. Die allermeisten ukrainischen Flüchtlinge suchen in Europa Zuflucht und nicht in den USA. Eine allfällige Fluchtwelle ist deshalb auch kein Thema im amerikanischen Wahlkampf.

Je nach Ausgang der US-Wahlen und den von Donald Trump oder Kamala Harris getroffenen Weichenstellungen könnte sich die Situation aber verschärfen. Trump hat versprochen, den Krieg rasch zu beenden. Das kann wohl nur funktionieren, wenn er der Ukraine einen Diktatfrieden aufzwingt.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (links) traf bei seinem US-Besuch im September auch den Republikaner Donald Trump.Bild: keystone

Bei der derzeitigen Situation an der Front bedeutet das nichts Gutes für Kiew: Abtreten von mindestens 22 Prozent der Landesfläche an Russland, Verzicht auf Sicherheitsgarantien und Nato-Beitritt, Installation einer von Moskau gesteuerten Marionettenregierung. Es wäre faktisch eine Kapitulation. Auf eine für die Ukraine bessere Lösung wird sich Putin ohne erheblichen Druck – das hiesse stark ausgeweitete westliche Waffenlieferungen an Kiew – nicht einlassen. Im Moment ist er ja dabei, den Krieg für sich zu entscheiden.

Was Harris mit der Ukraine anfangen würde, ist für viele Ukrainer unklar. Am ehesten erwartet wird eine Weiterführung der zögerlichen Politik von Präsident Biden: Nur so viele Waffen liefern, dass Kiew nicht untergeht, aber nie so viel, dass die Russen zurückgedrängt würden. Von den jüngsten amerikanischen Hilfszusagen seien bisher nur etwa zehn Prozent eingetroffen, beschwerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich.

FILE - Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, left, and U.S. Vice President Kamala Harris pose for pictures at the end of a news conference at the Munich Security Conference in Munich, Germany, on F ...
Selenskyj mit US-Vizepräsidentin Kamala Harris.Bild: keystone

Für Wladislaw und Anatol – und wohl zahlreiche andere Landsleute – ist es deshalb unerheblich, wer in den USA gewinnt. Es kämen ohnehin zu wenig Waffen und Munition, und die weitreichenden Lenkwaffen dürfe Kiew nicht gegen Ziele im russischen Hinterland einsetzen. Damit bleiben die russischen Jagdbomber, die jeden Tag 100 bis 200 Gleitbomben auf ukrainische Stellungen und Städte abwerfen, weitgehend unbehelligt, denn die Ukrainer dürfen die Basen, auf denen diese Flugzeuge stationiert sind, nicht angreifen.

Weitere Millionen könnten nach Europa flüchten

Olena*, eine junge Mitarbeiterin eines Hilfswerks in Kiew, meint dagegen, dass Trump ein «grosses Desaster» für ihr Land wäre. «Trump glaubt, dass man mit Putin verhandeln kann. Aber selbst wenn es einen Waffenstillstand und einen Friedensvertrag gäbe, würde Putin das nur als Kampfpause missbrauchen. Wenn er seine Armee wieder aufgerüstet hat, wird er den Rest der Ukraine von der Landkarte tilgen und danach Europa bedrohen.»

In den rund 80 Prozent des Territoriums, das Kiew jetzt noch kontrolliert, leben schätzungsweise 30 Millionen Menschen, unter ihnen rund 4 Millionen intern Vertriebene. Für den Fall, dass die Ukraine den Krieg verliert, sollten sich Europas Politiker gut überlegen, wie viele Flüchtlinge sich dann auf den Weg nach Westen machen: 1 Million, 5 Millionen oder 15 Millionen? Das wäre nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa ein Desaster. Ganz abgesehen davon, dass sich Putin durch die Schwäche des Westens ermuntert sähe, osteuropäische Länder in die Zange zu nehmen. Das wäre nicht ein Rezept für Frieden, sondern für weitere bedrohliche Konflikte.

* Name geändert (aargauerzeitung.ch)

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92 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Avanty
04.11.2024 10:13registriert März 2022
Die mangelhafte Hilfe ist eine einzige Tragödie. Die Konsequenzen einer Ukrainischen Niederlage werden um ein Vielfaches teurer sein als er eine anständige Unterstützung gewesen wäre. Die moralische Verpflichtung zu helfen hierbei noch komplett ausgeklammert. Die armen Ukrainer, es tut mir Leid und ich schäme mich für den Westen. Man wird die Rechnung später schon noch erhalten.
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mrmikech
04.11.2024 10:12registriert Juni 2016
Das ist doch alles gemäss Putins Plan: so viele Flüchtlinge wie möglich nach Europa zu schicken. Das spaltet den Kontinent und stärkt die Populisten, Putins Komplizen.

Erst waren die Syrer dran, jetzt die Ukrainer. Wer ist als Nächstes dran? Die baltischen Staaten oder sogar Polen?

Ich weiss nur, dass Polen sich niemals von Russland besiegen lassen wird. Südkorea könnte dabei eine wichtige Rolle spielen, als einer der grössten Waffenproduzenten der Welt. Was Deutschland nicht macht, wird bald Polen tun.
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banda69
04.11.2024 10:23registriert Januar 2020
Dass die Rechtspopulisten die Ukraine den Russen zum Frass vorwerfen, das kennen wir ja auch von der SVP. Notabene die Partei, welche lauthals nach Selbstbestimmung schreit. Man kann sich vorstellen, was diese Super-Eidgenossen mit dem eigenen Volch machen würde. Und ja, Tell würde sich im Grab umdrehen.
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