Die Polizei verhaftete am Mittwoch einen 17-jährigen Teenager in Antioch im Bundesstaat Illinois wegen «First degree intentional homicide», zu deutsch etwa vorsätzliche Tötung. Tatort: Kenosha im Bundesstaat Wisconsin, wo man ihn unter den BLM-Demonstranten sah, wie er mit einem halbautomatischen Sturmgewehr umher ging. Er soll für den Tod zweier Menschen verantwortlich sein und zusätzlich einen verwundet haben.
Was ist passiert?
Um dies zu beantworten, analysierte das Video-Team der New York Times die verfügbaren Online-Quellen, um den Tathergang so gut es ging zu rekonstruieren.
Kyle R. wurde am frühen Mittwochmorgen (Ortszeit) in seiner Heimatstadt Antioch im Bundesstaat Illinois verhaftet. Die Stadt, die etwa 30 Minuten südwestlich der Proteste in Kenosha liegt, ist nur knapp über der Staatsgrenze.
Mehrere Posts auf seinen mittlerweile gelöschten Social-Media-Accounts zeigen gemäss der «New York Times» eine starke Affinität für Waffen und Videos, in denen R. im Hinterhof Zielübungen macht. Ausserdem habe er etwa auf Facebook Profilbild-Filter der «Blue Lives Matter»-Bewegung verwendet. Diese Gruppe versteht sich als Gegenbewegung zu «Black Lives Matter» und verlangt härtere Strafen für Gewalt gegen Polizisten.
Viele Einzelheiten sowohl über Kyles Hintergrund als auch über seine Beweggründe, wieso er mit einem Sturmgewehr bewaffnet an die Proteste in Kenosha ging, sind aber noch nicht bekannt.
Eine Recherche von Buzzfeed will ihn aber bei einer Trump-Rallye in Iowa in der vordersten Reihe gesehen haben.
Etwa zwei Stunden vor der ersten Schiesserei gibt Kyle R. einem Livestreamer ein Interview bei einem lokalen Autohändler.
Kyle R. ist dort zur gleichen Zeit wie mehrere andere bewaffnete Männer. Einige von ihnen stehen auf dem Dach des Gebäudes mit Blick auf den Parkplatz, auf dem am Vortag Fahrzeuge verbrannt wurden. In einem kurzen Austausch im Livestream identifiziert er sich als «Kyle».
In einem anderen Interview spricht Kyle R. mit Richie McGinniss, einem Video-Redaktor des «Daily Caller», einem konservativen Newsportal. Er sei hier in Kenosha, um die Geschäfte zu beschützen, sagt er dem Interviewer. Er nennt es «seinen Job», obwohl er von anscheinend von niemandem damit beauftragt wurde.
Er taucht noch in mehreren anderen Videos auf, immer in der Gegend rund um den Autohändler. Er bietet den Demonstranten gemäss «New York Times» auch medizinische Versorgung an.
Etwa 15 Minuten vor der ersten Schiesserei tauchen Polizeibeamten auf und fahren an Kyle und weiteren bewaffneten Zivilisten vorbei. Sie bieten ihnen Wasser an, und sagen, sie würden den Einsatz schätzen. Kyle geht zu einem Polizeigefährt, das Gewehr in den Händen und spricht mit den Beamten.
Cell phone footage shows Kenosha police telling armed insurrectionists, “We appreciate you guys. We really do,” and giving them bottles of water. Shortly after this video was taken, one of these men shot and killed two protesters and wounded another.
— Shannon Watts (@shannonrwatts) August 26, 2020
pic.twitter.com/ORN31z9IMw
Er verlässt schlussendlich das Gebiet und wird von der Polizei an der Rückkehr gehindert. Sechs Minuten später zeigen Aufnahmen, wie Kyle von einer unbekannten Gruppe von Menschen auf den Parkplatz eines anderen Autohändlers einige Blocks entfernt gejagt wird.
Während Kyle R. von der Gruppe verfolgt wird, schiesst ein unbekannter Schütze in die Luft, wobei unklar ist, warum. Das Mündungsfeuer der Waffe erscheint im Filmmaterial, das am Tatort aufgenommen wurde.
Kyle R. wendet sich dem Schussgeräusch zu, als sich ein anderer Verfolger aus derselben Richtung auf ihn stürzt. Kyle feuert dann viermal und scheint dem Mann in den Kopf zu schiessen. Auf dem Videomaterial ist eine offene Kopfwunde zu sehen. Wir verzichten deshalb darauf, das Video zu verlinken.
Auch zu sehen ist, wie Kyle R. nach den Schüssen einen Telefonanruf macht und dann vom Tatort flüchtet.
Was zwischen dem vorherigen Video und dem folgenden passiert, ist nicht ganz klar. Viel Zeit verstreicht dazwischen aber nicht.
Im folgenden Video ist zu sehen, wie Kyle R. von mehrere Leuten verfolgt wird. Sie rufen: «Das ist der Schütze!» Kyle R. stolpert und fällt zu Boden. Er schiesst vier Schüsse ab, während drei Leute auf ihn losstürmen. Eine Person scheint in den Oberkörper getroffen worden zu sein und stürzt zu Boden. Eine andere Person, bewaffnet mit einer Pistole, wird in den Arm getroffen und rennt weg. Dazwischen sind mindestens ein Dutzend Schüsse zu hören.
(Warning, Graphic/Violent)
— Brendan Gutenschwager (@BGOnTheScene) August 26, 2020
A crowd chases a suspected shooter down in Kenosha. He trips and falls, then turns with the gun and fires several times. Shots can be heard fired elsewhere as well, corroborating reports of multiple shooters tonight #Kenosha #KenoshaRiots pic.twitter.com/qqsYWmngFW
Während all dies passiert, sind Polizeifahrzeuge nur etwa einen Block entfernt. Nach den Schüssen fliehen die anderen Personen und Kyle R. läuft der Strasse entlang in Richtung Polizeifahrzeuge.
Seine Hände sind in der Luft, das Sturmgewehr hängt um seinen Hals. Personen in der Nähe rufen, dass der Mann auf der Strasse eben Leute erschossen habe.
Die Polizei fährt mit Blaulicht an ihm vorbei ohne ihn zu stoppen. Sie fahren in Richtung der Opfer um ihnen wohl beizustehen. Das Video endet danach.
Nach den Schiessereien kündigten lokale Beamte an, dass die abendliche Ausgangssperre ab 19.00 Uhr bis Sonntag andauern werde. Und der Gouverneur von Wisconsin, Tony Evers, sagte, er werde Hunderte weitere Mitglieder der Nationalgarde des Bundesstaates nach Kenosha schicken.
Was danach mit dem Schützen Kyle R. passierte, ist nicht ganz klar. Er konnte anscheinend über die Bundesstaats-Grenze gehen, ohne belangt zu werden. Kyle R. wurde aber am nächsten Tag dann in seiner Heimatstadt Antioch 30 Minuten von Kenosha entfernt verhaftet.
This is America.