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Joe Biden: Die «New York Times» lässt den Präsidenten fallen

Die «New York Times» lässt Joe Biden fallen

Die wichtigste Zeitung der Welt stand lange Zeit beinahe uneingeschränkt hinter dem Präsidenten. Seit seiner TV-Debatte hat das Blatt eine Kehrtwende vollzogen.
03.07.2024, 15:3403.07.2024, 16:15
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Seit Joe Bidens erster Antwort während der TV-Debatte vom letzten Freitag gegen Donald Trump ist nichts mehr, wie es einmal war. Das heisere, unsichere Stimmchen des Präsidenten löste ein politisches Erdbeben aus.

Als Erster kippte Lloyd Doggett. Der demokratische Abgeordnete aus Texas forderte öffentlich Bidens Rücktritt. Experten erwarten, dass er mit diesem Tabubruch die Schleusen endgültig öffnete: Hinter den Kulissen soll sich eine wachsende Gruppe von demokratischen Abgeordneten formieren, welche nachziehen will.

Tonya Morris, from Cincinnati, reacts during the presidential debate between President Joe Biden and Republican presidential candidate former President Donald Trump at Tillie's Lounge on Thursday ...
Symptomatisch: Tonya Morris aus Cincinnati während der Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump.Bild: keystone

Sehr dezidiert Stellung bezieht auch die wichtigste Zeitung der USA (und der Welt). Nur Stunden nach dem entmutigenden Auftritt des Präsidenten vor der Kamera forderte die «New York Times» in einem Editorial den Rücktritt des Präsidenten: «To Serve His Country, President Biden Should Leave the Race», titelte das Blatt: «Um seinem Land zu dienen, soll Präsident Biden das Rennen aufgeben.» In der Online-Ausgabe wurde das Meinungsstück stundenlang an prominentester Stelle zuoberst auf der Seite platziert.

Bild
bild: screenshot NYT

Es ist eine Abkehr vom bisherigen Kurs. Bis zur Debatte hatte sich die «New York Times» (NYT) mit Kritik am Präsidenten vornehm zurückgehalten – und zeigte sich bei der Mission, Donald Trump als Wiederholungstäter zu verhindern, stets als zuverlässige Verbündete. Bis ins letzte Detail schlachteten die Reporter jeden Misstritt des verachteten Sohnes der Grossstadt aus. Trump ist in New York eine Persona non grata – insbesondere beim liberalen Blatt, das sich Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt.

Bidens zerbrechliche TV-Präsenz nötigte die NYT, sich zu entscheiden: für den Mann oder die Mission. Die NYT entschied sich für die Mission – und doppelte heute mit einem hit piece nach.

Ein hit piece nennt man im Journalismus einen Artikel, der darauf abzielt, eine Person oder ein Produkt in ein negatives Licht zu rücken: «Biden’s Lapses Are Said to Be Increasingly Common und Worrisome», lautet die heutige Aufmachergeschichte – «Bidens Ausrutscher sollen immer häufiger werden – und besorgniserregender». Die Botschaft ist klar: Der Mann ist nicht mehr fit für weitere vier Jahre.

Zu Beginn des Artikels heisst es dann auch unmissverständlich: «Verschiedene aktuelle und ehemalige Beamte und andere, die ihn [Joe Biden] hinter verschlossenen Türen trafen, bemerkten, dass er zunehmend verwirrt oder lustlos wirkte – oder den Gesprächsfaden verlor.» Die NYT bezieht sich dabei auf Aussagen, welche zum Teil Wochen und Monate zurückliegen, bisher aber zurückgehalten und nicht veröffentlicht wurden.

Ein Titel mit dem Potenzial, eine politische Karriere zu beenden.
Ein Titel mit dem Potenzial, eine politische Karriere zu beenden.bild: screenshot NYT

Der Rest des umfangreichen Artikels liest sich wie eine Würdigung: Wie Biden ein Reiseprogramm meisterte, das sogar jüngere Mitglieder der Belegschaft in die Knie zwang. Wie Biden in Sitzungen gut vorbereitet sei und scharfsinnige Fragen stelle. Vor allem aber: Wie Biden am Telefon Israels Ministerpräsident Netanyahu dezidiert in die Schranken wies, als Iran Israel mit Raketen attackierte. Er habe mit seiner Bestimmtheit eine Eskalation des Konflikts der beiden Staaten verhindert, lobt das Blatt.

Man muss die «New York Times» Journalismus nicht lehren – die Gratwanderung funktioniert: Das Stück zielt mit chirurgischer Präzision auf Bidens politische Zukunft, tastet seine Würde aber in keiner Weise an. Im Gegenteil. Bidens mutmasslich letzte wichtige Amtshandlungen wird als Husarenstück gefeiert.

Es ist die erste Regel im Grundkurs für Diplomatie. Dem Präsidenten wird unverhohlen die Türe gewiesen, aber gleichzeitig die Möglichkeit gewährt, mit erhobenem Haupt die Segel zu streichen. Ob er das Angebot annimmt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

epa11453417 President Joe Biden looks on during a briefing from National Weather Service, Department of Homeland Security, FEMA and Department of Labor officials on extreme weather throughout the Unit ...
Quo vadis, Joe Biden? Vielleicht in den Ruhestand?Bild: keystone

PS: Eine andere uralte Regel der Gesprächsführung, zu finden in Aristoteles «Topik», lautet, nicht mit dem Erstbesten zu diskutieren: «Diskussionspartner sollten über genügend Verstand besitzen, nichts allzu Absurdes vorzubringen.» Gute Diskussionsgegner zeichnen sich laut Aristoteles dadurch aus, dass sie die Wahrheit schätzen, gern gute Argumente hören, und diese dem Gegner nicht neiden. Sie sollten zudem die Grösse haben, zu ertragen, unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der gegnerischen Seite liegt.

Die nächste Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump ist für den 10. September geplant.

Wer mehr über Diskussionskultur, -kniffe und -tricks lesen will, dem sei der Wikipediaeintrag zur Eristischen Dialektik empfohlen.

Du findest die Präsidentschaftsdebatte einen grossen Kindergarten? Dann schau mal hier …

Video: watson/lucas zollinger
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57 Kommentare
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RightIsWrong
03.07.2024 16:05registriert November 2023
Joa, er ist wohl nicht mehr fit genug.
Kann es zu wenig beurteilen, fürs Regieren klappt es evtl. noch. Aber als Politiker muss er halt auch Auftritte meistern können.

Natürlich wäre er auch mit fortgeschrittener Demenz (und da ist er noch lange nicht) noch um eine Vielfaches besser als der völlig verrückte und bösartige Vollidiot.

Der sagt ja kaum je was auch nur annährend Sinnvolles, da ist mir ein alter, überlegter Biden viel Lieber, auch wenn er ab und zu Aussetzer hat.

Hoffe die Demokraten kriegen eine gute Wende hin. Auf keinen Fall dürfen die Republikaner an die Macht kommen.
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Hundshalter Leno
03.07.2024 16:06registriert September 2023
Es gibt zwar Politstrategen die der Ansicht sind, man solle die Meinung von Zeitungen nicht überbewerten. Bis zu einem gewissen Grad sicherlich richtig. Aber wenn das Blatt, dass wie kein Zweites mit dem liberalen Amerika verknüpft ist, dir den Rücken zukehrt, dürfte es verdammt schwierig werden.
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GrobianGans
03.07.2024 15:57registriert Februar 2014
Endlich. Hoffen wir, dass es nun schnell geht und die Demokrat:innen schnell eine breit abgestützte Kandidatin finden, oder einen Kandidaten. Zwischen 40 und 60, integer, normal.
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