Noé Mühlemann hat sich vor drei Jahren aufgemacht, um Südamerika zu bereisen. Seit zwei Jahren lebt der Schweizer nun in Chile, er hat sich der Liebe wegen dort niedergelassen. Mittlerweile ist er verheiratet und erwartet gemeinsam mit seiner Frau Zwillinge.
Die Freude über den Nachwuchs wird momentan aber getrübt. Mühlemann wohnt in Santiago, der Hauptstadt Chiles, und erlebt die Strassenschlachten hautnah mit. Der 23-Jährige übt Kritik an der Regierung und der Gewalt, die das Militär und die Polizei an den Tag legt – und erhält deswegen bereits Morddrohungen.
Noé, wie ist die Stimmung gerade in Santiago?
Angespannt, gerade aber ziemlich ruhig. Am Abend sind die Strassen fast leer, seit der Ausgangssperre trauen sich nicht mehr viele Menschen raus. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren nicht, auch Autos sind fast keine zu sehen. Protestieren lässt es sich jedoch auch von Zuhause aus: Dabei werden die Pfannen aus den Küchen geholt und darauf rumgeschlagen. Das hört man dann wieder in der ganzen Stadt.
Was kriegst du persönlich mit von den Protesten?
Ich habe gesehen, wie Polizisten wahllos demonstrierende Studenten verprügelt haben. Die waren zum Teil noch minderjährig. In der Metro habe ich zudem gesehen, wie Sicherheitskräfte auf die Studenten geschossen haben – mit Bleimunition, nicht Gummischrot. Ansonsten gibt es tausende Videos auf Facebook, die ganz klar belegen, dass die Sicherheitskräfte ausser Kontrolle sind. Demonstranten werden überfahren und es wird auf offener Strasse auf sie geschossen.
Wie stehst du zu den Demonstrationen?
Ich bin voll auf der Seite der Bevölkerung. Ich bin zwar eher von pazifistischer Natur. Mit Liebe und Reden erreicht man meiner Meinung nach viel mehr als mit Gewalt. Trotzdem verstehe ich die Leute, die die Schnauze voll haben. Es sind bereits 11 Personen gestorben, das Militär schiesst mit scharfer Munition auf die Bevölkerung. Die Demonstranten haben höchstens Steine, die sie schmeissen.
Du teilst auch selbst viele Videos davon auf Facebook.
Ja, meine Frau und ich wollen auf das Fehlverhalten der Polizei und des Militärs aufmerksam machen. Dafür sammeln wir die Videos im Netz und teilen sie, damit möglichst viele Menschen sehen, was hier abgeht. Wir haben deswegen vor ein paar Tagen Morddrohungen erhalten. Leute haben angerufen und gesagt, dass sie meine Frau töten werden, falls sie nicht aufhört, diese Videos zu teilen. Es verschwinden zurzeit sehr viele Leute spurlos. Zu viele.
Was macht ihr dagegen?
Wir haben uns bereits beim Schweizer Aussendepartement gemeldet. Auch beim Schweizer Konsulat in Santiago werden wir uns melden. Ich hoffe, dass ein mögliches Verschwinden unsererseits so bemerkt würde.
Es gibt auch Berichte über Krawallmacher und unzählige Plünderungen auf Seiten der Demonstranten. Ganze Einkaufshäuser werden angezündet.
Das stimmt zum Teil. Es gibt gewisse schwarze Schafe. Ich habe aber auch schon gesehen, dass den Plünderern von den anderen Demonstranten die Waren wieder weggenommen und ins Feuer geworfen wurden. Überhaupt: Der Anteil an Krawallmachern und Plünderern ist verschwindend klein im Vergleich zu den restlichen Protestierenden.
Sind es tatsächlich Demonstrierende, die diese Einkaufshäuser anzünden?
Von den Sicherheitskräften werden Videos veröffentlicht, auf denen zu sehen ist, wie Demonstrierende Brände legen. Damit wollen sie das riesige Militäraufgebot legitimieren, weil es ja so aussieht, als wäre die Situation ausser Kontrolle.
Die Preiserhöhung für die U-Bahn wurde bereits am Samstag von der Regierung zurückgezogen. Trotzdem halten die Proteste an. Wird aus Chile jetzt ein zweites Hongkong?
Die Proteste werden bestimmt noch eine Weile anhalten. Die Preiserhöhung war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seit Jahren wird alles immer teurer hier, ohne dass die Leute mehr Geld verdienen. Die Strompreise sind dieses Jahr bereits drei Mal gestiegen. Die Renten sind mies, die Universitäten teuer. Wasser wird von grossen Konzernen illegal aus Flüssen abgezapft.
Die Leute sehen nun, dass die Proteste doch etwas bringen. Das illegale Abzapfen des Wassers ist schon seit geraumer Zeit ein Problem. Nach nur einem Tag Demonstration sind nun plötzlich wieder Flüsse aufgetaucht, die seit Jahren kein Wasser mehr geführt haben.
Die Leute haben also Blut geleckt.
Genau. Nun wollen sie mehr: Mehr Frauenrechte, bessere Renten. Sie prangern mittlerweile sämtliche Missstände im Land an und werden nicht aufgeben, bis Präsident Piñera das Gespräch mit ihnen sucht.
Wahlen funktionieren aufgrund der Korruption selten wie sie sollten (z.B. kann man sich in Kolumbien für 10 CHF eine Stimme kaufen) , daher sehe ich solche Proteste leider als eine der einzigen Lösungen.
Es ist an der Zeit, dass die Bevölkerung von den Reichtümern ihrer Länder profitieren können.