Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohte am Wochenende der griechischen Regierung indirekt mit Krieg. «Wir fliehen nicht vor dem Kampf. In diesem Kampf schrecken wir nicht davor zurück, Märtyrer und Veteranen zu hinterlassen», sagte er etwa.
«Akzeptiert das griechische Volk etwa das, was ihnen wegen ihren habgierigen und inkompetenten Führern widerfahren wird?», fragte er weiter. «Weiss das französische Volk, welchen Preis es wegen ihrer habgierigen und inkompetenten Führer bezahlen wird?»
Grund für die rabiate Rhetorik war ein Entschluss Griechenlands, sein Hoheitsgebiet im Ionischen Meer von sechs auf zwölf Seemeilen zu vergrössern. Doch dahinter steckt ein viel grösserer Konflikt.
Grenzstreitigkeiten zwischen der Türkei und Griechenland haben eine lange Geschichte. Die aktuellen Grenzen haben ihren Ursprung im Vertrag von Lausanne (1923). Nachdem die Türken den Griechisch-Türkischen Krieg von 1919 bis 1922 gewonnen hatten, mussten die Griechen Izmir (griechisch Smyrna) und Ostthrakien (der europäische Teil der Türkei) abgeben.
Unter Erdogan wurden diese Grenzen aber immer wieder in Frage gestellt. 2016 etwa bezeichnete der türkische Präsident den Vertrag von Lausanne als «Niederlage für die Türkei» und sprach von «unfairen Bestimmungen» und hatte dabei die Ägäis-Inseln im Sinn, die «in Rufweite» der Türkei liegen. Er präzisierte: Es gäbe einen «Kampf darum, was ein Festlandsockel sei.» Dazu später mehr.
Diese Aussagen wurden damals eher als innenpolitisch motiviert interpretiert. Nach dem Putschversuch von 2016 habe Erdogan Stärke zeigen wollen. Nachdem aber in den umstrittenen Gebieten Gasfelder entdeckt wurden, bekommen Erdogans Aussagen neue Brisanz.
Schlussendlich geht es bei der aktuellen Eskalation um Erdgas und die Frage, wer das Recht hat, danach zu bohren und es zu fördern.
Bereits vor einem Jahr gab es Streitereien um drei Gasfelder vor der Küste Zyperns. Die Türkei entsandte das Bohrschiff «Fatih» um nach Gasfeldern zu suchen – ohne Konzession.
Beim aktuellen Konflikt geht es um vermutete Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Seit Juli sucht das türkische Erkundungsschiff «Oruc Reis» nach Erdgas. Das Problem: Die Erkundungen finden in Seegebieten statt, die entweder von Griechenland oder Zypern beansprucht werden – und ebenso von der Türkei.
Ein Blick auf die Karte zeigt die Lage: Das Seegebiet zwischen Kreta, Rhodos und Kastelorizo ist umstritten, und genau dort sucht die Türkei nach Erdgas.
Auf der Seite «Marine Traffic» lässt sich die Route des Expeditionsschiffes «Oruc Reis» gut nachverfolgen. Die Mission war ursprünglich für die Dauer von zwei Wochen im August angedacht, am Montagabend verlängerte die türkische Regierung ein weiteres Mal bis zum 12. September. Illegal, sagt Griechenland und spricht von Provokation, Unruhestiftung und Destabilisierung der Region.
Die Türkei widerspricht und ist der Meinung, dass das Seegebiet zu türkischem Territorium gehöre. Um den Anspruch zu festigen, schloss die Türkei bereits Ende letztes Jahr mit Libyen ein Abkommen zur Festlegung der Wirtschaftszonen zwischen den beiden Ländern.
Griechenland wiederum kopierte diese Aktion und schloss ein ähnliches Abkommen mit Ägypten – die Türkei geht dabei leer aus und hätte praktisch keine Seegebiete.
Reuters: Greece ratified an accord on maritime boundaries with Egypt on Thursday, hours after Turkey extended the operation of a seismic survey vessel in the Eastern Mediterranean and said it will hold firing exercises in the region next month. pic.twitter.com/SQTbPoD7gk
— East Mediterranean (@MedSeaCyprus) August 28, 2020
Die Völkerrechtlerin Nele Matz-Lück bewertet gegenüber der deutschen «Tagesschau» die beiden Abkommen folgendermassen:
Damit man versteht, wer wie argumentiert, muss das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen angeschaut werden. Es legt für Küstenländer eine sogenannte Ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ) fest. Diese AWZ reicht weit über die zwölf Seemeilen der Hoheitsgewässer eines Landes hinaus. Ein Staat hat bis maximal 200 Seemeilen bzw. 370 Kilometer ab der Küste das alleinige Recht zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Bodenschätzen. Falls die Küste eines anderen Landes näher liegt, gilt die Mittellinie zwischen beiden Küsten. Die griechischen Inseln Rhodos und Kastelorizo verringern also die türkische AWZ enorm.
Die Türkei bringt nun den sogenannten Festlandsockel ins Spiel. Da es sich bei Kreta und Rhodos nicht um Festland handle, sondern lediglich um vorgelagerte Inseln, verfalle der Anspruch Griechenlands. Die Argumentation der Türkei ist nicht aus der Luft gegriffen: Griechenland will den Fall nur ungern vor einem internationalen Gericht sehen, da der Ausgang unklar wäre.
Das zeigt ein Beispiel aus dem Atlantik: Die französischen Inseln Saint-Pierre und Miquelon liegen vor der Ostküste Kanadas, das kleine Archipel hat gerade mal 6000 Einwohner. Trotzdem beanspruchte es eine AWZ von 200 Seemeilen Fischerei-Gebiet für sich. Ein Schiedsgericht verneinte den Anspruch und gestand lediglich einen Korridor zur Fischerei zu. Eine AWZ von 200 Seemeilen hätte Kanada praktisch vom Atlantik ausgeschlossen.
Völkerrechtlerin Matz-Lück geht davon aus, dass die Chancen für die Türkei relativ gut stehen würden: «In der internationalen Streitbeilegung zu Grenzstreitigkeiten ist anerkannt, dass die Länge der Küstenlinie eine Rolle spielt und berücksichtigt wird – und dass kleinere Inseln, die eine Grenzziehung verzerren würden, gegebenenfalls bei der Abgrenzungen aussen vor bleiben.»
Die türkische Expedition war von Anfang an auf Provokation aus: Nicht umsonst liess man das Forschungsschiff «Oruc Reis» von Marineschiffen begleiten.
Die Griechen antworteten ihrerseits mit einer erhöhten Alarmbereitschaft und forderten die «Oruc Reis» im Viertelstundentakt via Funk auf, die Gewässer zu verlassen. Auch die Ankündigung des französischen Präsidenten Macron, Marineschiffe in die Region zu senden, schien Ankara nicht zu beeindrucken, verschärfte das Klima eher noch. Vermittlungsversuche der EU und von Donald Trump blieben erfolglos.
Griechenland gab sich ebenfalls keine Mühe, die Situation zu entschärfen. Obwohl die Ausdehnung der Hoheitsgewässer von letzter Woche im Ionischen Meer, also Italien zugewandt, stattfand, liess Athen verkünden, dass man sich weitere Ausdehnungen offen lässt.
Das ist klar als Provokation zu werten, hat doch das türkische Parlament bereits 1995 eine Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer in der Ägäis zum Casus Belli erklärt. Will heissen: Sollten die Griechen ihre Hoheitsgewässer vor der türkischen Küste ausdehnen, könnte Ankara einen Krieg beginnen, ohne eine Genehmigung des Parlaments einzuholen.
Nun kommt aber das grosse Aber: Einen Krieg könnten sich beide Staaten nicht leisten. Die türkische Wirtschaft ist am Boden, eine kriegerische Auseinandersetzung würde die türkische Lira weiter auf Talfahrt schicken. Griechenland ist ebenfalls angeschlagen: Die Corona-Krise hat auch ihren wichtigsten Wirtschaftsbereich, den Tourismus, schwer getroffen.
So dient das Säbelrasseln im Mittelmeer wohl vor allem einem Zweck: Einer Machtdemonstration, die von den innenpolitischen Problemen ablenken soll.