Trotz Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten stürmen die Finanzmärkte zu neuen Höchstständen. Die Inflation scheint gebändigt, der Tech-Boom ungebrochen zu sein. Wird sich dieser positive Trend auch im neuen Jahr fortsetzen?
Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, die Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock glaubt daran – aber mit Vorbehalten.
Partylaune in der Finanzwelt. Die amerikanische Notenbank, die Fed, hat im kommenden Jahr drei Zinssenkungen in Aussicht gestellt und damit eine Kursexplosion ausgelöst. BlackRock hingegen war bis vor Kurzem in seinen Prognosen noch verhalten pessimistisch. Hat sich mit der Ankündigung der Fed die Haltung von BlackRock verändert?
Martin Lück: Die Fed hat den Deckel auf die Zinsanhebungen getan. Doch die Frage, ob sie tatsächlich im kommenden Jahr die Leitzinsen senken kann – das wurde zumindest in Aussicht gestellt –, ist noch nicht entschieden. Die Märkte erwarten aktuell Zinssenkungen in einem weiten Umfang.
Gibt die Inflation das wirklich her?
Wir glauben nicht, dass die Leitzinsen vor Mitte des Jahres gesenkt werden können. Das könnte bedeuten, dass anfangs Jahr eine gewisse Ernüchterung an den Finanzmärkten einkehren wird.
Wie hat man sich diese Ernüchterung vorzustellen?
Es wird keine Katastrophe geben. Aber man kann davon ausgehen, dass es Unsicherheiten gibt.
Die Fed erklärt, wenn auch verklausuliert, die Inflation ist besiegt. Daran glauben Sie noch nicht wirklich, oder?
Fed-Präsident Jerome Powell hat an einer Pressekonferenz zu Beginn dieses Jahres erklärt, die Inflation gehe zurück, und steigt dann wieder an. Diese Achterbahn der Inflation ist für alle schwer zu lesen, auch für die Zentralbanken. Verschiedene Komponenten spielen eine Rolle: Die Energiepreise, die rasch und heftig schwanken können. Die sogenannte Kerninflation (Inflation ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise, Anm. d. Red), und dann natürlich auch die Löhne. Angesichts der Tatsachen, dass die Boomer-Generation in Rente geht, zeichnet sich eine Verknappung auf dem Arbeitsmarkt ab. Das kann die Löhne in die Höhe treiben.
Spielt auch die Deglobalisierung, von der heute öfter mal die Rede ist, eine Rolle?
China hat dank seiner Löhne lange Zeit dafür gesorgt, dass die Inflation wenig Thema war. Das dürfte nicht so weitergehen. Hinzu kommt, dass – aufgrund der gewaltigen Investitionen, die nötig sind – auch der Klimawandel inflationstreibend wirkt.
Jüngere Menschen haben noch nie Inflation erlebt, die Älteren wieder vergessen, wie es war, als es sie gab. Jetzt aber sieht es so aus, als ob die Zentralbanken gewillt sind, eine höhere Inflationsrate zu akzeptieren als die bisher unantastbare Zwei-Prozent-Marke.
Wir nennen das «living with inflation» und gehen davon aus, dass sich beispielsweise in den USA die Inflationsrate bei rund drei Prozent einpendeln wird, und dass die Fed nicht versuchen wird, diese Rate um jeden Preis auf zwei Prozent zu drücken.
Und wie wird die Fed dies rechtfertigen?
Ein Argument könnt lauten: Angesichts der hohen Staatsverschuldung ist eine leicht höhere Inflationsrate praktisch.
Lässt sich das überhaupt kommunikativ stemmen?
Die Fed hat das Inflationsziel in das sogenannte «average inflation targeting» umformuliert. Fed-Präsident Powell hat schon 2020 erwähnt, nicht zwingend jedes Jahr die Zwei-Prozent-Marke erreichen zu müssen. Die Inflation sollte vielmehr im Durchschnitt zwei Prozent sein. Da die Inflation lange unter dieser Marke lag, hat sich Powell damit einen gewissen Spielraum verschafft.
Für wie lange wird dieser Trick reichen?
Die Fed hat den Zeitraum dafür nicht definiert. Dies im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank, die daher – aktuell zumindest – nur minim vom Zwei-Prozent-Ziel abweichen dürfte.
Nicht nur die Zentralbanken, auch die Finanzmärkte können anscheinend bestens mit einer leicht höheren Inflation leben. Die Aktien- und die Obligationenmärkte schliessen mit einem sehr guten Jahr ab. Wie erklären Sie diese schon fast euphorische Stimmung?
Die Jahresend-Rally ist eindeutig darauf zurückzuführen, dass die Märkte auf die veränderte Geldpolitik der Zentralbanken reagiert haben. Denn nachdem rund 18 Monate lang die Zinsen angehoben wurden, kommt dieser Prozess nun zu Ende. Das werten die Märkte positiv.
Lange hat die Mehrheit der Ökonomen eine Rezession prophezeit. Stattdessen wird es wahrscheinlich zu einem Soft Landing kommen. Will heissen: Die Wirtschaft findet auch ohne Rosskur auf einen nachhaltigen Wachstumspfad. Gelten die alten Gesetzmässigkeiten der Volkswirtschaft nicht mehr?
Wir hatten den stärksten Zinsanstieg seit 1980. Eigentlich schien eine Rezession unabwendbar.
Und warum ist sie nicht eingetreten?
Wie so oft gibt es eine Reihe von Gründen. Ein entscheidender war wohl die Tatsachen, dass die Fiskalpolitik des Staates Gegensteuer zur Geldpolitik der Zentralbanken gegeben hat.
Das heisst, die Staaten haben viel Geld ausgegeben. In den USA beispielsweise beträgt das Staatsdefizit im laufenden Jahr rund sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ein für Schweizer Verhältnisse horrender Wert.
Das sind tatsächlich schon beinahe südeuropäische Verhältnisse. Aber vor allem in den USA wurde die restriktive Geldpolitik der Fed kompensiert durch eine grosszügige Fiskalpolitik.
Wie sah dies konkret aus?
Während der Pandemie haben die Haushalte Checks nach Hause geschickt bekommen. Damit wurde der Konsum angekurbelt, und so lange der Konsum läuft, rutscht die Wirtschaft nicht in eine Rezession. Dank des «inflation reduction act» und des «chip act» (zwei Gesetze der Biden-Regierung zur Förderung der Nachhaltigkeit und der Halbleiter-Industrie, Anm. d. Red.) haben die Unternehmen grosse Investitions-Anreize erhalten.
Also ein Aufschwung auf Pump?
Nicht nur. Vielleicht hat sich auch etwas daran geändert, wie sich die Geldpolitik der Zentralbanken seit der letzten Finanzkrise in der Realwirtschaft auswirkt. Da hat sich sehr viel getan. Was genau, wissen wir noch nicht. Aber es ist auf jeden Fall erstaunlich, dass wir anstatt in einer Rezession möglicherweise in der besten aller Welten gelandet sind, in einer «Goldilocks economy», einer Wirtschaft, die wächst, ohne zu überhitzen. Das erklärt auch die Euphorie auf den Finanzmärkten der letzten Wochen.
Wird sich diese Euphorie auch im neuen Jahr fortsetzen? Oder wird der «Economist» recht behalten. Das renommierte Wirtschaftsmagazin hat kürzlich den Zustand der Weltwirtschaft mit der bekannten Comic-Figur verglichen, die weiterrennt, obwohl sie den Boden unter den Füssen verloren hat?
Es kann sein, dass die Wirkung der Geldpolitik noch kommen und die US-Wirtschaft noch eine Rezession erleben wird. Ein steiler Absturz ist jedoch inzwischen sehr unwahrscheinlich geworden. Gleichzeitig müssen wir jedoch auch der Tatsache ins Auge schauen, dass das Wachstum eher schwach ausfallen dürfte.
Gemäss den Prognosen des Internationalen Währungsfonds soll die Weltwirtschaft nächstes Jahr um rund drei Prozent wachsen.
Ja, aber dieses Wachstum ist sehr unterschiedlich verteilt. Das Bruttoinlandsprodukt der Industrieländer dürfte im Durchschnitt 1,5 Prozent zulegen. Europa liegt mit 0,9 Prozent noch deutlich unter diesem Wert. Ich halte auch diesen Wert für zu hoch, weil diese Prognose erstellt wurde, bevor das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts bekannt war. Wegen dieses Urteils wird die deutsche Volkswirtschaft – die grösste Europas – noch stärker schrumpfen als bisher angenommen. Das hat auch Auswirkungen auf andere Länder, auch auf die Schweiz.
Eine Frage, die viele Laien umtreibt: Weshalb haben die Krisen wie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten so wenig Wirkung auf die Finanzmärkte?
Geopolitik wird eine grosse Unbekannte im kommenden Jahr sein. Auch die Finanzmärkte haben sich ein Bild dieser Kriege gemacht und haben sich daran gewöhnt. Ich halte das für ein Risiko.
Das interessiert die Märkte offenbar nicht. Warum?
Der Konflikt hat sich bisher nicht über den Gazastreifen hinaus verbreitet. Sollte sich der Krieg hingegen ausweiten, dann würde sich das rasch ändern. Kriege im Nahen Osten haben sich bisher stets auf den Ölpreis ausgewirkt. Eine Verdoppelung des Ölpreises würde einen neuerlichen Inflationsschock auslösen, wie wir es schon in den Siebzigerjahren erlebt hatten.
Geopolitik ist also trotzdem wichtig?
Ja, allerdings wird sie für die Märkte vor allem dann relevant, wenn die Folgen konkret greifbar werden. Die Tatsache allein, dass die Welt unsicher ist, reicht nicht, um die Finanzmärkte nachhaltig zu beeinflussen. Zudem müssen wir 2024 mit neuen geopolitischen Risiken rechnen.
Zu einem geopolitischen Risiko könnte auch ein allfälliger Wahlsieg von Donald Trump werden. Wie würden die Märkte darauf reagieren?
Nächstes Jahr werden auf der Welt 77 Wahlen stattfinden. Mehr als die Hälfte der globalen Bevölkerung wird zur Urne schreiten. Die Wahlen in den USA sind sicherlich die bedeutendsten.
Und das bedeutet?
Als Trump 2016 gewählt wurde, ist der vielfach prognostizierte Absturz der Börsen ausgeblieben. Im Gegenteil, die Märkte haben kurz gewackelt und sind dann nach oben gelaufen.
Erwarten Sie das auch bei einem allfälligen Wahlsieg 2024?
Gerade weil Trump Dinge tun würde, die uns nicht unbedingt gefallen würden, halte ich es für möglich. Er könnte beispielsweise in Naturschutzgebieten nach Öl bohren lassen. Die Märkte würden dies kurzfristig vielleicht opportunistisch sehen. Auf längere Sicht wäre eine Wahl von Trump jedoch vermutlich negativ für Märkte, allerdings nicht unmittelbar nach der Wahl selbst.
Anderes Thema: Die Aktien der «Glorreichen Sieben» – Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon, Meta, Nvidia und Tesla – haben in diesem Jahr um rund 80 Prozent zugelegt. Erleben wir hier die Wiederkehr der Dotcom-Blase am Ende der Neunzigerjahre?
Ich denke nicht, dass es eine Wiederkehr der Dotcom-Blase ist. Diese war gekennzeichnet durch Unternehmen, die noch nie einen Gewinn erzielt hatten. Es war aufbauend auf dem Prinzip Hoffnung. Die «Glorreichen Sieben» hingegen sind hochrentable Unternehmen und gut eingeführte Marken. Die Bewertung ihrer Aktien ist damit gerechtfertigt. Auch das Umfeld stimmt. Die Welt wird weiter von einem technologischen Umfeld getrieben.
Werden also die «Glorreichen Sieben» auf absehbare Zeit die Gewinner bleiben?
Das muss sich weisen. Auch Tech-Unternehmen sind keine geschützten Werkstätten. Das hat man bereits bei einigen Techtiteln gesehen. Umgekehrt gibt es Technologieunternehmen, die vor Kurzem kaum jemand gekannt hat, die dieses Jahr grosse Kursgewinne verzeichnen konnten.
Die Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde. Wie schätzen Sie diesen Trend ein?
Ich halte KI für grundsätzlich vielversprechend. Wie sollen wir Menschen die gigantischen Probleme – Stichwort Klimawandel, Stichwort Migration, Stichwort demografischer Wandel – ohne Technologie lösen? Das bedeutet auch, dass sich die «Glorreichen Sieben» dereinst anders zusammensetzen könnten, dass beispielsweise ein Unternehmen dazukommt, das besonders gut darin ist, grünen Wasserstoff herzustellen.
Aber die hohen Kurse der Tech-Aktien beruhen grundsätzlich auf einer soliden Basis?
Die Vermutung, dass Tech-Aktien auch 2024 zu den Gewinnern gehören werden, rechtfertigt das Vertrauen, das der Markt derzeit in sie setzt.
Eine Art Wiedergeburt haben auch die Kryptos erlebt. Auch BlackRock soll bald einen Bitcoin-ETF auflegen. Werden die Kryptos zu ernsthaften Playern?
Es gibt zwei Lager innerhalb der Finanzgemeinde. Die einen sagen ja, die anderen nein. Dazwischen gibt es wenig. KI spielt eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung unserer Wirtschaft – der Einsatz von KI hat das Potenzial, sich positiv auf die Produktivität auszuwirken, die Inflation einzudämmen, unsere Wissensbasis zu erweitern und die Gewinnspannen der Unternehmen sowie das Wirtschaftswachstum zu verbessern.
Weshalb will BlackRock zumindest einen Zeh in den Krypto-Teich stecken?
Wir sind die Treuhänder unserer Kunden, und der Wunsch nach diesen Anlagemöglichkeiten ist vorhanden.
BlackRock, und vor allem CEO Larry Fink, haben sich in Sachen ökologische Anlagen sehr weit aus dem Fenster gelehnt – und deswegen auch Kritik erhalten. Wie sieht es in Sachen ESG heute aus?
Larry Fink erklärte einmal dazu: Wir werden von beiden Seiten kritisiert, von den Umweltorganisationen und von republikanischen Bundesstaaten. Das zeigt, dass wir etwas richtig machen. Wir können es nicht allen recht machen. Aber natürlich werden wir auch weiterhin versuchen, unsere Kunden davon zu überzeugen, dass im Klimarisiko auch ein Investmentrisiko liegt.
Kommen wir zum Schluss: Bei allen geo- und klimapolitischen Problemen, wie beurteilen Sie die aktuelle Lage. Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Das Glas ist halb voll in dem Sinne, dass wir für 2024 ein recht ordentliches Jahr für Aktien und ein relativ gutes Jahr für Obligationen erwarten.