Flammen, die sich durch den dichten Busch fressen, jahrhundertealte Urwaldriesen, die umknicken wie Streichhölzer, Rauchschaden über nacktem, ausgebranntem Land: Brasilien steht in Flammen – schon wieder. Nachdem im vergangenen Jahr die heftigsten Waldbrände der vergangenen 20 Jahren im brasilianischen Amazonasgebiet gewütet hatten, steuert dieses Jahr auf einen neuen traurigen Rekord zu. Schon im Juni hat das Nationale Institut für Weltraumforschung (Inpe) anhand von Satellitenbildern 2200 Brände identifiziert. Insgesamt, heisst es von der Inpe, wurden in der ersten Jahreshälfte 25 Prozent mehr Wald zerstört als im Vorjahreszeitraum.
Umweltschützer warnen: 2020 könnte das zerstörerischste Jahr für den grössten Regenwald des Planeten werden. Denn zum einen werden während der Corona-Pandemie die ohnehin laxen Kontrollen ausgesetzt. Und zum anderen sitzt mit Jair Bolsonaro noch immer ein Präsident an der Spitze des Landes, der den menschengemachten Klimawandel leugnet – und dessen Macht durch die Agrarlobby gesichert wird.
«Bolsonaros politische Rhetorik befeuert die Waldrodung», sagt Daniel Flemes vom Giga Institut für Lateinamerika-Studien gegenüber watson:
Denn auch in diesem Jahr geht man davon aus, dass die meisten Brände von Menschen gelegt werden. Weil sie landwirtschaftliche Nutzfläche gewinnen wollen. Weil sie Soja anbauen oder Weideland für Rinder schaffen wollen.
Fakt ist: Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro zu Beginn des vergangenen Jahres explodierten die durch Brandrodung ausgelösten Feuer im Amazonaswald geradezu, mehr als 90'000 Brände wurden damals gezählt. Nicht verwunderlich, wenn Bergbau und Landwirtschaft gefördert und gleichzeitig Projekte zum Schutz des Regenwalds zurückgefahren und Umweltbehörden entmachtet werden.
Die Corona-Pandemie scheint da gerade recht zu kommen. Angesichts von 1.8 Millionen Infizierten gibt es schliesslich andere Sorgen als den Schutz des Regenwalds. «Jetzt, wo die mediale Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf Corona liegt, wird das genutzt, um Umweltgesetze zu deregulieren und Dinge mit geringem öffentlichem Widerstand durchzusetzen», sagt Flemes. «Zuletzt hat Bolsonaro sein Veto eingesetzt gegen ein Gesetz der Oppositionspartei, das Trinkwasser und Beatmungsgeräte für die indigene Bevölkerung sicherstellen sollte.»
Bolsonaro ist mit dieser Taktik nicht allein. Erst kürzlich tauchte eine brisante Videoaufnahme aus einer Kabinettssitzung auf. Darin zu sehen: Umweltminister Ricardo Salles, der vorschlägt, die Corona-Pandemie zu nutzen, um Umweltauflagen zugunsten von Bergbau und Landwirtschaft zu umgehen. Weil Salles zudem das Budget des Umweltministeriums um 25 Prozent kürzte und einen Fonds für die Bekämpfung der Abholzung im Regenwald einfror, forderten in der vergangenen Woche zwölf Staatsanwälte öffentlich Salles Entlassung. Dass sie damit Erfolg haben, ist unwahrscheinlich.
In Meeting with #Bolsonaro + all Ministers on April 22, 2020 #EarthDay Environment Minister #RicardoSalles (a pro-agribusiness lobbyist) openly & shamelessly incited the acceleration of the deregulation of environmental laws over the #AmazonForest #Amazonia protections pic.twitter.com/JMTwlbf3Y8
— Defend Democracy in Brazil (@BrazilDemocracy) May 25, 2020
Zwar gab es zuletzt selbst seitens grosser Firmen und internationaler Investoren Druck – und daraus resultierend das Versprechen der Regierung, die Abholzung zu bremsen. Salles kündigte laut Nachrichtenportal G1 sogar an, Brandrodungen für 120 Tage zu verbieten. Flemes sagt trotzdem:
Denn die Landwirtschaft ist für Brasilien von enormer Bedeutung, nicht nur für den Export. Neben einem immensen Einfluss über die Steuergelder gibt es auch massive Überschneidungen zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten. «Grossgrundbesitzer auf dem Land haben traditionell auch grossen politischen Einfluss. Das ist eine der Lobbys, die Bolsonaro von Anfang an stark unterstützt haben und die jetzt auch in der Regierung sitzt», so der Wissenschaftler.
Ein Beispiel: Die heutige Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina war früher Agrarlobbyistin. «Sie hat ihre Positionen eins zu eins in die Regierung getragen», sagt Flemes.
Zum enormen Einfluss der Agrarlobby kommt, dass viele Brasilianer ganz andere Probleme als Umweltschutz haben, nicht erst seit der Corona-Pandemie. «Ein Grossteil der Bevölkerung Brasiliens ist weiterhin arm und hat andere Sorgen als Umweltschutz, nur etwa zehn Prozent geht es wirtschaftlich gut», sagt Flemes:
Dabei haben auch wir durchaus Grund, uns für den Erhalt des Amazonas-Regenwaldes einzusetzen. Denn der gilt als der grösste CO2-Speicher der Welt, mehr als 20 Prozent des globalen C02-Ausstosses werden hier gebunden. Der Regenwald wird deshalb auch die «grüne Lunge der Welt» genannt. Und ohne Lunge überlebt es sich schwer. Zudem ist die Artenvielfalt im Amazonasgebiet enorm.
Auch das Ausland ist nicht ganz unschuldig an der Amazonas-Abholzung – Stichwort Fleischkonsum. Denn in Brasilien wird vor allem deshalb gerodet, um Weideflächen für Rinder oder Anbaufläche für Sojapflanzen zu schaffen. Letztere gelten wiederum als Futtermittel für Rinder, Schweine oder Puten.
Weltweit ist Brasilien der grösste Rindfleischproduzent. Deutschland bezieht zwar nur drei Prozent seines Rindfleisches von dort. Dafür kommt laut WWF aber 80 Prozent des deutschen Sojas aus Südamerika. Das wird wiederum hauptsächlich als Kraftfutter in der Massentierhaltung genutzt. «Indirekt haben wir eine Mitverantwortung für die Waldbrände. Wenn wir diese Waren nicht konsumieren und kaufen würden, würde der Wirtschaftszweig nicht weiter expandieren und grössere Landflächen einnehmen», sagt Flemes. Allerdings sei das nur eine indirekte Verbindung – man könnte das Fleisch in Brasilien ja auch anders produzieren.
Recall last year when 🔥 in the Amazon was a big issue? Well... pic.twitter.com/UbVWDfliVq
— Greg Fiske (@g_fiske) July 7, 2020
Das bleibt allerdings Theorie. In der Praxis wird weiter gerodet, Tag für Tag, Woche für Woche. Rindfleisch und Soja aus Brasilien zu boykottieren ist aber auch gar nicht so einfach. Können wir doch kaum nachvollziehen, woher das Soja stammt, das ein europäisches Rind oder Schwein im Laufe seines Lebens verdrückt hat. «Dafür bräuchte es den politischen Willen, das nachvollziehbar zu machen», sagt Flemes.
Momentan gibt es den nicht, im Gegenteil: Die brasilianische Regierung hat kürzlich sogar durchgesetzt, dass Tropenholz nicht mehr kennzeichnungspflichtig ist. Und Landwirte und Holzindustrie entwickelten für Soja und Holz einfach ein Siegel, das garantieren soll, dass die Produkte entwaldungsfrei sind, also nicht aus dem Amazonasgebiet stammen. Wirklich glaubwürdig ist das nicht, sagt Flemes, schliesslich habe die Lobby das Siegel selbst entwickelt: «Und grosse Unternehmen haben sowohl Standorte im Amazonas als auch ausserhalb und können jederzeit selbst bestimmen, welche Herkunft sie bei einem Produkt angeben.»
Und so haben bislang weder der öffentliche Disput zwischen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im vergangenen Jahr noch der Hashtag #prayforamazonas nachhaltig etwas verändert. «Immerhin war die brasilianische Regierung durch den Druck der Weltöffentlichkeit im vergangenen Jahr gezwungen, Militär in das Amazonasgebiet zu entsenden, um gegen die Waldbrände und illegale Waldrodung vorzugehen», sagt Flemes.
Und auf politischer Ebene gibt es noch ein Druckmittel für den Schutz des Amazonas-Waldes: das Mercosur-Freihandelsabkommen zwischen der EU und Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. «Wenn man verifizierbare Regeln aufstellt, dass etwa die Rechte von Indigenen eingehalten werden müssen, dann würde das schon Wirkung zeigen», sagt Flemes.
Bislang ist aber wenig passiert. Aktuell hat die EU-Bürgerbeauftragte eine Untersuchung gegen das Abkommen eingeleitet. Der Vorwurf: Die EU sei bei Umweltfragen nachlässig gewesen.
Bis sich hier etwas tut, lodern die Flammen im Amazonas weiter, und nicht nur dort. Auch in Australien und selbst in den Polargebieten in Alaska und Russland brannte es im vergangenen Jahr heftig. Dem WWF zufolge setzten Waldbrände 2019 weltweit etwa 7.8 Milliarden Tonnen CO2 frei. Das ist ungefähr ein Viertel der Emissionen, die die gesamte Menschheit bei der Energiegewinnung freisetzt.
Die sich zuspitzende Klimakrise könnte solche heftigen Waldbrände zur «neuen Normalität» machen, warnt der WWF. Denn Hitzewellen und Dürren führen in Verbindung mit leicht entzündlicher Vegetation zu «Megafeuern», die kaum noch zu löschen sind. Dabei werden gigantische Mengen CO2 freigesetzt, die wiederum das Klima aufheizen – ein Teufelskreis. Auch ohne eine Politik, die Brandrodungen antreibt, gibt es also eine Menge zu tun.