1909 schrieb der britische Wirtschaftsjournalist Norman Angell ein äusserst einflussreiches Buch mit dem Titel «The Great Illusion». Darin vertrat er die These, wonach ein Krieg zwischen den entwickelten Ländern unmöglich geworden sei. Zu gross seien die wirtschaftlichen Interessen geworden. Angells These gibt es mittlerweile in den verschiedensten Varianten bis hin ins Absurde. So wurde auf dem Höhepunkt der Globalisierung gar postuliert, Länder mit McDonald’s-Filialen würden keinen Krieg gegeneinander führen.
«Wandel durch Handel» lautet die deutsche Variante dieser These. Angela Merkel soll eine Anhängerin gewesen sein und deswegen auch die direkte Gas-Pipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland befürwortet haben. Je enger wir Putin an uns binden, desto kleiner sein Interesse, uns Böses anzutun, so angeblich die Überlegung der Alt-Bundeskanzlerin.
Der russische Intellektuelle Alexander Dugin wird gelegentlich auch als «Putins Gehirn» bezeichnet. Tatsächlich könnte er der Verfasser der wirren Wutrede sein, die der russische Präsident am Vorabend seines Einmarsches in die Ukraine gehalten hat. Dugin ist ein prominenter Vertreter des Neo-Faschismus und ein glühender Nationalist. Schon 1997 führte er in seinem bedeutendsten Buch «The Foundation of Geopolitics» aus, wie Russland wieder zu einer Grossmacht werden kann.
David von Drehle fasst in der «Washington Post» Dugins Plan wie folgt zusammen: Russland soll den Kulturkrieg in den USA fördern und die Amerikaner in den Isolationismus treiben. Gleichzeitig soll es die Entfremdung zwischen Grossbritannien und dem Kontinent vorantreiben. Westeuropa schliesslich soll mit Lieferungen von Gas, Öl und Getreide näher an Russland gebunden werden. In der Summe sollen diese Massnahmen zum baldigen Kollaps der Nato führen.
Der Erste Weltkrieg hat Angells These pulverisiert. Putins Krieg führt nun sowohl die Wandel-durch-Handel-Illusion als auch die «Westeuropa-ist-ein-Öl-Junkie»-These ad absurdum. Wie auch immer das blutige Geschehen in der Ukraine ausgehen mag, eines steht fest: Russland ist durch Handel mit dem Westen nicht friedlicher geworden. Es wird auf lange Zeit ein Paria-Staat bleiben und für China ein Lieferant billiger Rohstoffe.
Gleichzeitig wird dieser Krieg Russlands Stellung als Öl-Supermacht langfristig untergraben. Das zeigt Daniel Yergin in einem Gastkommentar im «Economist» auf. Yergin gilt als weltweit führender Energie-Experte. Er ist der Verfasser von mit Preisen ausgezeichneten Büchern wie «The Prize» und «The New Map».
Heute noch gehört Russland zusammen mit Saudi-Arabien und den USA zu den drei grössten Ölproduzenten der Welt. Gleichzeitig exportiert es von allen Ländern am meisten Erdgas. Europa ist dabei Russlands wichtigster Kunde: 2021 bezog es 29 Prozent seines Erdgases und 35 Prozent seines Öls aus Russland.
Das wird nicht so bleiben. «Russlands Erdgas-Lieferungen nach Europa werden in den kommenden fünf Jahren dramatisch sinken», stellt Yergin fest. «Europa wird seine Anstrengungen auf dem Gebiet der nachhaltigen Energie verstärken, nun nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Gründen.»
Erste Anzeichen dieser Entwicklung lassen sich bereits heute beobachten. So war der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck soeben auf Goodwill-Tour im Persischen Golf, um über zusätzliche Lieferungen von Flüssiggas (LNG) zu verhandeln. Deutschland wird alles daran setzen, um die dazu nötige Infrastruktur in Windeseile umzubauen. LNG kann Europa auch von Katar oder den USA beziehen.
Die deutsche Verwaltung und die Industrie sind derweil dabei, Energie-Rationierungspläne für den kommenden Winter vorzubereiten. Sie tun dies im Wissen um die grosse Bedeutung der fossilen Brennstoffe. Ob Chemie oder Pharma, ob Autoindustrie, Landwirtschaft oder Bauwirtschaft, sie alle sind auf Erdgas und Öl angewiesen.
In Frankreich hat der Öl-Multi TotalEnergies angekündigt, bis Ende Jahr kein Öl mehr aus Russland zu beziehen und keine neuen Investitionen mehr zu tätigen. Total war bis anhin wichtigster westlicher Player im russischen Energiemarkt, wichtiger noch als etwa BP, Shell und Exxon. Diese alle wollen sich ebenfalls aus Russland zurückziehen. Frankreich seinerseits will seine Energielücke wieder vermehrt mit Atomenergie füllen.
Russland hingegen will weniger fossile Energie in den Westen liefern. Es hat die Kapazität seiner Öl-Pipelines vermindert in der Hoffnung, dank der Verknappung höhere Preise erzielen zu können.
Die Entwöhnung des Westens vom russischen Erdgas und Öl wird Russland jedoch hart treffen. Rund 40 Prozent seines Staatsbudgets wird aus Einnahmen aus dem Geschäft mit fossiler Energie bestritten. Warum aber können China und Indien – beides Länder, die zu einem hohen Grad auf den Import von Öl und Gas angewiesen sind – nicht in die Lücke springen?
Das ist schneller gesagt als getan. Russlands Pipelines sind mehrheitlich auf Europa ausgerichtet. Sie lassen sich nicht so rasch auf Asien umpolen. «Das komplexe System, das täglich rund 100 Millionen Fass rund um den Globus transportiert, kann nicht so einfach umgemodelt werden», stellt Yergin fest. Kommt dazu, dass die russischen Energieunternehmen inzwischen stark auf westliche Technik angewiesen sind.
Putins Kalkül ist davon ausgegangen, dass der von seinen Energielieferungen abhängige Westen nur halbherzig gegen seine Invasion protestieren werde, und dass er mit der Einverleibung der Ukraine seinem Traum einer eurasischen Grossmacht einen grossen Schritt näher kommen würde. Er hat sich gründlich getäuscht: Stattdessen ist Putin dabei, Russlands Stellung als Supermacht in Sachen fossiler Energie zu untergraben. Er gefährdet damit seine wichtigste Einnahmequelle.
Gleichzeitig zwingt Putin Europa geradezu, in Sachen New Green Deal rasch vorwärts zu machen. Langfristig wird der russische Präsident Europa so grüner machen – wenn er es nicht zuvor in die Steinzeit zurückbombt.
Kritische Zeiten liegen vor uns allen. Hoffen wir, dass es nicht noch mehr eskaliert.