Seit dem 5. Mai nimmt Amber Heard im Verleumdungsprozess gegen Johnny Depp Platz auf dem Zeugenstand. Ihre Aussagen wurden mit Spannung erwartet – nicht zuletzt deshalb, weil ihr zuvor zwei Psychologinnen verschiedene Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert hatten.
Seitdem wird besonders im Internet und in den sozialen Medien spekuliert – alle teilen ihre Eindrücke vom Auftritt Heards vor der Jury. Ihr Verhalten, ihre Wortwahl, ihre Blicke – alles wird genau analysiert. Dabei werfen die Kommentatoren mit verschiedenen Ferndiagnosen um sich. Und je nachdem, auf welcher Seite man steht, will man die eine oder andere Diagnose in ihrem Verhalten auf dem Zeugenstand erkennen. Doch wovon ist hier eigentlich genau die Rede?
Wir versuchen, etwas Klarheit in die Verwirrung zu bringen und ordnen die verschiedenen Störungen ein. Welche Persönlichkeitsstörungen diskutiert werden und wie sich diese unterscheiden, erfährst du hier:
Am 24. April wurde Dr. Shannon Curry in den Zeugenstand gerufen. Curry arbeitet für Depps Team, die forensische Psychologin hat im Vorfeld über 12 Stunden mit Amber Heard verbracht und eine Evaluierung vorgenommen. Ihre Resultate, die sie im Zeugenstand der Jury vortrug: Heard leidet an einer Borderline-Störung sowie an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Heard leidet ihrer Meinung nach allerdings nicht – wie von Heard und ihrem Team behauptet – an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie habe, so Curry, die Symptome einer solchen vorgetäuscht.
Von Depps Anwälten wurde ausserdem Erin Boerum Falati vorgeladen, die ehemalige Krankenpflegerin Heards. Sie bezeugte, Heard habe ihr von einer familiären Vorgeschichte von Drogenmissbrauch berichtet. Ausserdem habe Heard ihr erzählt, sie habe eine Vorgeschichte von Angstzuständen, Essstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen, einer bipolaren Störung, Abhängigkeitsproblemen und von Schlaflosigkeit berichtet. Diese Erzählungen hatte Falati in ihren Notizen aufgenommen, die öffentlich gezeigt wurden. Heard bestritt, solche Aussagen je getätigt zu haben.
Eine Woche später wurde auch Currys Resultaten gänzlich widersprochen: Am 3. Mai nahm nämlich Dr. Dawn Hughes im Zeugenstand Platz. Sie gehört zum Team von Amber Heard und sagte als Zeugin für die Angeklagte aus. Hughes erklärte, mehr als 20 Stunden mit Heard verbracht und ebenfalls eine Reihe von psychologischen Tests durchgeführt zu haben. Sie kam zum Ergebnis, dass Heard sehr wohl an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide (aufgrund der Misshandlungen, die sie mutmasslich durch Johnny Depp erfuhr) – aber keineswegs an einer Borderline-Störung.
Einen Tag später, am 4. Mai, wurde schliesslich Amber Heard selbst in den Zeugenstand berufen und von ihren Anwältinnen und Anwälten befragt. Im Zuge dessen bestritt sie die Darstellung von Dr. Curry, der Psychologin in Depps Team. Die beiden Seiten haben Heard damit ganz unterschiedliche Störungen diagnostiziert.
Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung charakterisiert sich unter anderem durch eine extreme Instabilität sowohl des Selbstbildes wie auch durch instabile Beziehungen zu anderen Menschen. Folgende Punkte gehören zu den wichtigsten Symptomen und Beschwerden:
Wenn eine Borderline-Störung fehldiagnostiziert wird, dann in den meisten Fällen mit einer bipolaren Störung. Auch diese Störung ist durch starke Schwankungen (manische und depressive Episoden) gekennzeichnet. Der Hauptunterschied zu einer Borderline-Störung liegt aber darin, dass bei einer bipolaren Störung sich die Stimmungen nachhaltiger und weniger reaktiv (also als Reaktion auf das Verhalten anderer) verändern. Bei einer Borderline-Störung hingegen ändern sich Verhalten und Stimmung sehr viel schneller und meist als Reaktion auf äussere Stressoren wie zwischenmenschliche Vorfälle.
Auch im Fall von Amber Heard wird diese Störung besonders im Netz immer wieder thematisiert. Im aktuellen Fall hat ihr aber keine der beiden Psychologinnen eine bipolare Störung diagnostiziert.
Einige Patienten erfüllen die Kriterien für mehr als eine Persönlichkeitsstörung. Johnny Depps Zeugin, Dr. Shannon Curry, bescheinigte Amber Heard neben einer Borderline-Störung auch eine – allerdings weniger stark ausgeprägte – histrionische Persönlichkeitsstörung.
Diese ist «durch ein durchdringendes Muster der übermässigen Emotionalität und Aufmerksamkeitssuche gekennzeichnet.» Patientinnen und Patienten mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung stellen ihre Emotionen oft übertrieben, theatralisch und oberflächlich dar. Sie stehen gerne im Mittelpunkt und werden schnell depressiv, wenn sie es nicht sind.
Ausserdem sind sie extrem auf ihr Äusseres bedacht und wollen mit ihrem Aussehen und ihren Handlungen andere beeindrucken, verführen oder von sich selbst überzeugen. Solche Menschen haben oft das Gefühl, dass ihre Beziehungen enger sind, als es tatsächlich der Fall ist. Ausserdem sehnen sie sich nach Veränderung: Arbeitsplätze und/oder Freunde können sich dadurch schnell ändern. Menschen mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung langweilen sich schnell und haben den Drang, eine unmittelbare Befriedigung zu erfahren.
Von Dr. Dawn Hughes erhielt Heard jedoch eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) diagnostiziert. Beide erklärten der Jury, Heard leide unter PTSD aufgrund der Misshandlungen, die sie durch Depp erlitten haben soll.
Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht durch ein überwältigendes traumatisches Ereignis. Patienten können solche Ereignisse entweder selbst erlebt haben oder Zeuge davon geworden sein. Durch diese entstehen wiederholte, starke und ungewollte Erinnerungen, die länger als einen Monat andauern. Meistens entstehen sie innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis.
Symptome von PTSD können sich verschiedentlich äussern. Oft gehören Vermeidung, negative Veränderungen in der Wahrnehmung und Stimmung sowie Änderungen in der Erregung und Reaktivität dazu, auch Albträume sind sehr häufig. Bei Patientinnen und Patienten mit chronischer PTBS sind ausserdem Depressionen, andere Angststörungen und Substanzmissbrauch verbreitet.
Es kann aber auch eine emotionale Abgestumpftheit entstehen: Patientinnen mit PTSD vermeiden Stressoren oder Stimuli, die sie mit dem traumatischen Ereignis verbinden. Das kann sich zum Beispiel in Desinteresse an alltäglichen Aktivitäten äussern.
Die Diagnose all dieser Störungen erfolgt in der Regel und unter anderem anhand des sogenannten «DSM-5» («Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition»), einem Klassifikationssystem für psychische Störungen.
Um eine Diagnose zu bestätigen, gibt es jeweils eines oder mehrere bestimmte Kriterien, sowie eine Mindestanzahl an zusätzlichen Kriterien, die erfüllt sein müssen. Bei diesen zusätzlichen Kriterien ist jegliche Kombination möglich, das Vorhandensein des ersten, wichtigsten Kriteriums ist aber zwingend.
Dass zwei Psychologinnen Amber Heard zwei derart unterschiedliche Diagnosen stellten, wirft die Frage auf: Wie ist ein solcher Unterschied in den Diagnosen möglich?
Beide Psychologinnen gaben an, anhand von DSM-5 ihre Diagnosen gestellt zu haben. Und beide gaben an, wissenschaftliche und strenge Methoden angewandt zu haben, um zu ihren Schlussfolgerungen zu gelangen. Curry sagte aus, dass sie sich zum Teil auf einen von ihr durchgeführten Test namens «MMPI-2» («Minnesota Multiphasic Personality Inventory») stützte. Dieser beinhaltet einen Satz von 567 Fragen.
Für die Befunde über die (aus ihrer Sicht nicht vorhandene) post-traumatische Belastungsstörung führte Curry ein weiteres strukturiertes Interview («CAPS-5») an. Heard habe laut Curry 19 der 20 möglichen Traumasymptome angegeben. Selbst Menschen mit den «schwersten» Formen von PTBS erreichten nicht so hohe Werte.
Hughes hingegen widersprach diesem Ansatz entschieden: Sie habe Tests auf das Vortäuschen oder Übertreiben von Krankheiten durchgeführt. Heard habe dabei «eine Null erzielt». Hughes meinte ausserdem, dass Heards Ergebnis beim «MMPI-2» auf ein «normales Profil» hindeutet.
Beide Anwaltsteams versuchten in der Folge, die Psychologin und die Diagnose der anderen Seite zu diskreditieren, mitunter durch Angriffe auf die Person. Am Ende wird es die neunköpfige Jury (sechs Männer und drei Frauen) sein, die entscheiden muss, wessen Einschätzung glaubwürdiger ist.
Die grundsätzliche Frage die in der Luft steht, ist die, ob heutige Gerichte so fortschrittlich sind, dass sie auch Frauen als Täterinnen und Männer als Opfer von häuslicher Gewalt sehen können (#mentoo), oder ob sie bei Männern als Opfer systematisch die Augen verschliessen.