Herr Hothorn, Sie wuchsen in Heidenau bei Dresden im sogenannten «Tal der Ahnungslosen» auf.
Torsten Hothorn: Genau – daher auch die Bezeichnung «ARD», «Ausser Raum Dresden», für das 1. Programm. Wir konnten kein Westfernsehen empfangen. Es gab im Radio den Deutschlandfunk, aber kein ZDF oder ARD. Das heisst: Man hätte das auch bei uns haben können, war aber mit gewissen Aufwänden und Installationen verbunden.
Wie erlebten Sie die Zeit kurz vor dem Mauerfall in dieser, heute würde man sagen, Bubble?
Ich war damals 14 Jahre alt und ich muss zugeben, dass es rückblickend schwierig ist, zu unterscheiden, was tatsächliche Erinnerung ist und was ich später durch die Berichterstattung dazu empfangen habe. Es war aber eine extrem intensive Zeit. Jeden Tag gab es Veränderungen.
Wie äusserte sich das?
Da gab es einiges, auch weit vor dem Herbst 1989: zum Beispiel das «Sputnik»-Verbot. «Sputnik» war eine russische Zeitschrift, die damals auch Glasnost und Perestroika thematisierte. Und plötzlich wurde sie bei uns verboten. Eigentlich lasen wir nie «Sputnik», aber durch das Verbot wurde sie plötzlich interessant. Für uns war das ein erstes Anzeichen, dass sich in der Freundschaft zwischen der DDR und der Sowjetunion langsam Risse bildeten. Oder dann war da die Kommunalwahl im Mai. In der DDR hatte man bei Abstimmungen nur die Möglichkeit, für oder gegen die vorgelegte Einheitsliste der Nationalen Front zu stimmen. Mein Vater war beim Auszählen dabei und es war recht schnell klar, dass in verschiedenen Wahllokalen betrogen wurde. Darüber haben die Leute natürlich geredet.
Aber von offizieller Seite wurde alles totgeschwiegen?
Natürlich – aber auch offizielle Statements sorgten für Unmut: Im Juni 1989 fand in Peking auf dem Tian’anmen-Platz das Massaker statt. Das gewaltsame Vorgehen wurde von offizieller Seite gutgeheissen. Egon Krenz (der spätere Nachfolger von Erich Honecker als Generalsekretär der SED, Anm. d. Red.) lobte die sogenannte «chinesische Lösung». Das stand dann so auch in der Zeitung. Dass Gewalt von offizieller Seite propagiert wurde, sorgte bei vielen Leuten für Unverständnis.
Wie kommt man an Informationen, wenn sämtliche offiziellen Kanäle vom Staat kontrolliert werden?
In den meisten Gegenden wurden ja ARD und ZDF empfangen. Und wo das nicht der Fall war, gab es Radio. Aber man muss dazu sagen, dass in dieser Zeit auch die offiziellen Kanäle bereits diskret kritische Stimmen zuliessen. Zum Beispiel die Jugendsendung ELF99 im DDR-Fernsehen. Ich mag mich noch erinnern, wie im September 1989 ein älteres Mädchen in meiner Akkordeongruppe plötzlich nach Hause ging, um ELF99 zu schauen. Ich fand unerhört, dass jemand freiwillig aufs Akkordeonspielen verzichtete, nur wegen einer Fernsehsendung im DDR-Fernsehen. Aber ELF99 war kritischer und ich schaute das Programm später auch. Die waren es auch, die im November, als die Messe bereits gesungen war, aufzeigten, in welchem «Saus und Braus» die Parteisekretäre der SED in der Waldsiedlung in Wandlitz lebten (eine geschlossene Wohnsiedlung für ranghohe Parteimitglieder der SED, Anm. d. Red.). Mit Geschirrspülmaschinen und so. Aus heutiger Sicht war das an Biederkeit nicht zu überbieten, vielleicht mittlerer Standard, aber halt weit weg von den Möglichkeiten der normalen Leute in der DDR.
Und dann kam der Tag des Mauerfalls ...
... genau. Ich weiss noch, wie ich mit meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder vor dem Farbfernseher sass, den meine Eltern zuvor für viel Geld aus den Ferien im Erzgebirge nach Hause gebracht hatten. Wir schauten die Pressekonferenz mit Günter Schabowski, bei der er die neue Ausreiseregelung verkündete, die danach den Mauerfall provozierte. Die Bilder des Mauerfalls habe ich, soviel ich weiss, nicht live im Fernsehen gesehen.
Verstanden Sie als Jugendlicher, was vor sich ging?
Jein. Mein Vater versuchte, uns die Vorgänge so verständlich wie möglich zu erklären. Eine einschneidende Erinnerung für mich war, dass danach alle Leute nach Berlin fuhren und dafür ohne Entschuldigung die Kinder aus der Schule nahmen. Auch in meiner Klasse fehlten plötzlich einige Kinder. Relativ schnell, vielleicht nach zwei, drei Wochen, wurde deswegen dann der Samstagsunterricht aufgehoben. Für mich war das ein grosser Fortschritt, weil ich endlich ein richtiges Wochenende hatte (lacht).
Und dann gingen Sie auch «rüber»?
Mein Vater war bereits zuvor in Westdeutschland gewesen. Für ihn war es kein Thrill mehr. Ausserdem war er zwischenzeitlich in Dresden gewesen und hatte gesehen, welch chaotische Verhältnisse dort am Bahnhof herrschten. Deshalb warteten wir ein paar Tage ab. Zum ersten Mal in Westberlin war ich am 28.11.1989, also etwa zweieinhalb Wochen nach dem Mauerfall.
Wie war es?
Wir übernachteten zuerst in einem Vorort von Berlin und gingen dann praktisch zu Fuss über die Grenze. Da war ein Loch in der Mauer und ein kleiner Grenzposten. Wir stellten uns beim Rathaus in Berlin-Steglitz an und erhielten 100 Mark Begrüssungsgeld. Es war halt eine Grossstadt im Herbst. Ich erinnere mich noch, dass es einfach nur anstrengend war und nicht die grosse Erleuchtung.
Es war also nicht so, dass Sie in die Obstabteilung des Kaufhauses stürmten?
Nein. Diese Unterschiede werden überzeichnet. Wir hatten in der DDR natürlich ebenfalls Früchte, aber nicht von dieser Auswahl und Qualität. Auch die vielzitierten Bananen. Exotischeres wie Avocados hatten wir nicht, oder es war schwierig, eine frische Ananas zu finden. Für mich war Westberlin zu dem Zeitpunkt nicht die grosse Erleuchtung. Es ist halt auch eine sehr individuelle Erfahrung. Andere haben da sicher mehr Begeisterung aufbringen können. Um mit den zwei Kindern dem Trubel zu entkommen, entschieden sich meine Eltern, in den Zoo zu gehen.
Kamen Sie da zum Staunen?
Nein. Ich muss Sie leider auch da enttäuschen. Wir hatten in Dresden auch einen Zoo mit diversen Tieren. Das Einzige, was mich in Westberlin an diesem Tag nachhaltig beeindruckte, waren die gelben Doppelstockbusse, die es damals noch gab. Sowas hatte ich wirklich noch nie gesehen.
Aber irgendwann hat sich die Öffnung bemerkbar gemacht?
Für mich kam die Wende zum perfekten Zeitpunkt. Ich war damals in der achten Klasse und wie fast alle ein Thälmann-Pionier gewesen. Das ist die Organisation, von der man später zur FDJ wechselte, zur Freien Deutschen Jugend. So richtig indoktrinierend waren meine Erfahrungen noch nicht gewesen und komplett harmlos im Vergleich zu dem, was danach auf mich gewartet hätte: In der neunten Klasse hätte der Wehrunterricht begonnen mit dem Wehrerziehungslager. Das war eine vormilitärische Ausbildung, in der bereits über eine mögliche Offizierslaufbahn spekuliert wurde. Da wäre der Spass natürlich vorbei gewesen, dem hätte man sich nur schwer entziehen können. Und auf einen Schlag war diese «Aussicht» verschwunden. Die Wende kam für mich also zum perfekten Zeitpunkt – aber das gilt bei Weitem nicht für alle Ex-DDR-Bürger.
Für wen nicht?
Ich war zu jung, um vom System nachhaltigen Schaden zu nehmen. Die Generation meiner Eltern hatte genug Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, verstand die Dinge und verfügte vor allem über genügend Selbstbewusstsein, um mit den Veränderungen klarzukommen. Dazwischen gab es aber eine Generation, die damals 20 oder 25-Jährigen, die hatten es nicht einfach. Sie hatten es schwerer, sich anzupassen, und sie verfügten nicht über das Selbstbewusstsein der älteren Generation.
Und das sind heute die AfD-Wähler?
Ach Gott. Ich weiss nicht, ob man solche 1:1-Beziehungen festmachen kann. Ich tue mich damit schwer. Es gibt verschiedene Gründe, die eine oder andere Partei zu wählen. Das gesamte Grundvermögen der DDR wurde nach der Wende privatisiert – und das wirkt bis heute fort. Das kann ein Grund sein, weshalb sich die Leute heute noch herabgesetzt fühlen. Wie Wolf Biermann im «Spiegel» sagte: Die Ostdeutschen schulden den Westdeutschen rein gar nichts. Sie haben den Krieg bezahlt. Und ich finde, Biermann hat da einen Punkt. Während der Westen nach dem Krieg vom Marshallplan profitierte und die Westintegration voranschritt, gab es auf der anderen Seite dieses kleine Land von 16 Millionen, das alles alleine aufbauen musste.
Gab es keine Hilfe der Sowjets?
Bis in die 50er-Jahre liess man die DDR ausbluten. Die Sowjets bauten bestehende Schienenstränge in der DDR ab und verlegten sie zuhause neu. Viel Hilfe kam da nicht. Aber die Generation meiner Grosseltern war im Krieg gewesen. Die hatten die Schnauze einfach gestrichen voll. Und dadurch entstand die Bereitschaft, sich für etwas Eigenes ins Zeug zu legen. Und das haben sie auch getan. Wenn man sich anschaut, wie der Lebensstandard in Rumänien oder anderen Ostblockländern damals war, muss man die Leistung der DDR-Bevölkerung schon anerkennen. Das hatte natürlich auch seinen Preis: Die Umwelt wurde geschädigt und alle mussten arbeiten. Die viel gerühmte Gleichstellung der Frau in der DDR war ja nichts anderes als eine ökonomische Dringlichkeit. Wenn ich als Ostdeutscher zurückschaue, sehe ich, dass es auch andere Möglichkeiten als eine Wiedervereinigung gegeben hätte. Aber diese wurden nicht genutzt.
Der dritte Weg einer reformierten DDR?
Als wir nach unserem ersten Besuch in Westberlin zurückfuhren, lief im Bus das Radio. Der Bundeskanzler stellte einen Zehnpunkteplan vor. Das war der erste Moment, an dem man erkennen konnte, wohin das Ganze lief. Plötzlich wurde von Wiedervereinigung gesprochen. Am selben Tag eröffnete sich in der DDR eine Bewegung, die für einen selbstbestimmten Neuanfang stand. Es war der Wunsch, den Laden selbst renovieren zu dürfen. Im Nachhinein hat sich das, in meinen Augen, als ungenutzte Chance herausgestellt.
Inwiefern?
Nach der Wende verschwand innerhalb von zwei Jahren die gesamte Industrie. Das ging sehr schnell. Bereits im Sommer 1990 verloren die Ersten ihre Jobs – kurz nach der Einführung der D-Mark. Riesige Industriebetriebe mit 2000 Beschäftigten machten einfach dicht. Wenn man aus Dresden Richtung Sächsische Schweiz fuhr, standen links und rechts Fabriken. Die gingen alle kaputt. Der Bäcker im Dorf – einfach weg. In meiner Klasse wurden die Eltern der Schüler arbeitslos. Wenn ich heute nach Dresden fahre, steht kein Stein mehr auf dem anderen. In baulicher Hinsicht, aber auch im sozialen Gefüge. Das Land meiner Kindheit existiert nicht mehr, weggespült von einer Riesenwelle. Das ist schon einschneidend. Andererseits hat mich diese Erfahrung gelehrt, dass auch die dicksten Mauern und ein ganzes System innerhalb von wenigen Monaten verschwinden können – und es geht trotzdem weiter. Das hat mich sicher gelassener gemacht. Auch die grössten Schwierigkeiten gehen vorbei. Man muss sich einfach mit dem Neuen arrangieren.
Und das haben Sie dann im Westen getan?
Unter solchen Umständen entscheidet sich die Frage, wo man leben will, dadurch, wo Arbeit vorhanden ist. Wir sind 1992 nach Ludwigshafen am Rhein umgezogen. Dort musste ich dann samstags wieder in die Schule (lacht). Aber ich darf sagen, dass ich persönlich von diesem Umzug auf ganzer Linie profitiert habe. Diese Bildungsmöglichkeiten! Was in der DDR im besten Fall ein extrem steiniger Weg gewesen wäre, war plötzlich eine vierspurige Autobahn. Plötzlich öffneten sich für mich ungeahnte Türen.
Waren Sie als Ossi an einer Schule im Westen nicht abgestempelt?
Die Schule war sehr international. Es gab viele Polen und Russen. Industriestadt halt. Ich musste mich ein bisschen reinfinden, aber nach vier bis sechs Wochen hatte ich Freunde, mit denen ich bis heute in Kontakt stehe. Dass ich aus der Ex-DDR kam, war kein Thema.
Und jetzt leben Sie in der Schweiz.
Ja, seit acht Jahren, und das sehr gern. Ich bin wohl auch nicht der erste Sachse, dem aufgefallen ist, dass die Mentalitätsunterschiede zu manchen, sagen wir, Rheinländern, grösser sind als die zu manchen Deutschschweizern.
Herr Hothorn, können Sie uns zum Schluss noch einen Buchtipp geben, für die User, die sich mit der DDR und der Wende vertiefter auseinandersetzen möchten?
Ich finde, «Der Turm» von Uwe Tellkamp trifft es ziemlich gut. Oder von Reiner Kunze «Die wunderbaren Jahre», welches ein sehr dichtes Stimmungsbild vermittelt. Wer mehr Zeit hat, kommt um die «Jahrestage» von Uwe Johnson nicht herum.
Und ich werfe «Als wir träumten» von Clemens Meyer in den Topf. Herr Hothorn, vielen Dank für dieses Gespräch.
Das ist nämlich ein Hauptgrund, warum die Industriebetriebe von heute auf morgen zu gingen.