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Anschlag in Washington: Eine Parabel auf den Hass

Anschlag in Washington: Eine Parabel auf den Hass

Sarah Milgrim und Yaron Lischinsky hofften auf Frieden in Nahost – ihr mutmasslicher Mörder tötete laut Ermittlern «für Palästina, für Gaza». Über das Gift der Feindschaft
25.05.2025, 11:0325.05.2025, 11:39
Steffi Hentschke / Zeit Online
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Zeit Online

Am kommenden Sonntag hatten Sarah Milgrim und Yaron Lischinsky nach Israel fliegen wollen. Die jüdische US-Amerikanerin Milgrim, 26 Jahre alt, arbeitete für die israelische Botschaft in Washington, D.C. genauso wie ihr Partner, der Deutsch-Israeli Yaron Lischinsky, 30 Jahre alt. Während der gemeinsam geplanten Reise nach Israel habe er ihr einen Heiratsantrag machen wollen, berichtet die New York Times, die auch mit Milgrims Eltern gesprochen hat. «Das Ironische daran ist, dass wir um die Sicherheit unserer Tochter in Israel besorgt waren», zitiert die Zeitung den Vater, Robert Milgrim.

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Sarah Milgrim und Yaron Lischinsky fielen einem Hassverbrechen zum Opfer.Bild: keystone

Milgrim und Lischinsky wurden am Mittwochabend Ortszeit in Washington, D.C. getötet, nicht etwa im Nahen Osten, wie der Vater gefürchtet hatte. Man könnte den Fall deshalb erzählen als warnende Parabel auf den Hass, den der israelisch-palästinensische Konflikt sät − seit seinem Bestehen und verstärkt seit dem verheerenden Gazakrieg, ausgelöst durch den Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023.

Den Tatort bewusst gewählt

Der mutmassliche Täter Elias R. soll laut FBI während seiner Vernehmung am Donnerstag erklärt haben: «Ich habe es für Palästina getan, ich habe es für Gaza getan.» Am Tatort anwesende Polizisten sollen zudem eidesstattlich versichert haben, dass R. bei seiner Festnahme «Free Palestine» gerufen habe. Laut den bisherigen Untersuchungen soll R. seine Opfer nicht gekannt haben. Den Tatort, das jüdische Museum in D.C. soll er jedoch bewusst ausgewählt haben.  

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Das jüdische Museum in Washington, D.C.Bild: keystone

In dem Museum fand am Mittwochabend der jährliche Empfang des American Jewish Committee für Nachwuchsdiplomaten statt. Wie die israelische Zeitung Haaretz berichtet, sollen daran Vertreter von mehreren Nichtregierungsorganisationen teilgenommen haben, die sich seit Kriegsbeginn für die Lieferungen humanitärer Hilfe nach Gaza engagierten. Über 300 Lastwagen hätten die Gruppen vor Beginn der israelischen Blockade vor zwei Monaten nach Gaza gebracht, sagte eine der Organisatorinnen des Events, Jojo Drake Kalin, der Zeitung.

Wie Kalin im Interview mit dem US-Sender Sky News am Donnerstag schilderte, habe sie die tödlichen Schüsse nicht gehört und gerade das Gebäude verlassen wollen, als sie in der Lobby einen «zerzausten» Mann gesehen habe. Als sie ihm ein Glas Wasser angeboten habe, habe er plötzlich «free, free Palestine» zu schreien begonnen. Polizisten hätten ihn dann festgenommen. «Wir waren an dem Abend zusammengekommen, um Brücken zu bauen», sagt Kalin gegenüber Sky News. Es sei «eine schmerzliche Ironie, dass jemand mit solchem Hass» ausgerechnet dieser Veranstaltung angegriffen habe.

Die Symbolkraft des Doppelmords

Fügt man zwei Tage nach der Tat alle bisher öffentlich gewordenen Informationen zusammen, zeigt sich, warum dieser Anschlag aus einem dramatischen Drehbuch stammen könnte. Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim setzten sich für eine friedlichere Zukunft in Nahost ein. Er engagierte sich für den Dialog zwischen Juden und Christen, Deutschen und Israel. Sie war aktiv in mehreren führenden Peacebuilding-Initiativen, hatte unter anderem an der University of Peace der Vereinten Nationen studiert.

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Diese Frauen trauern um die beiden Verstorbenen.Bild: keystone

In den sozialen Medien meldeten sich am Donnerstag zahlreiche Menschen mit Beiträgen, um beiden zu gedenken. «Ihr lag die Schaffung von Frieden zwischen Palästinensern und Israelis sehr am Herzen», schrieb etwa der Sozialunternehmer Jake Shapiro, Freund und Kollege von Milgrim, bei LinkedIn und forderte:

«Zu viele Leben – jüdische und palästinensische – sind in diesem Konflikt verloren gegangen. Er muss beendet werden.»

Zusätzliche Symbolkraft erhält der Doppelmord, weil der mutmassliche Täter eine Sicht auf den Nahostkonflikt offenbarte, über die seit Langem akademisch gestritten wird: den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Israelhass. Laut israelischer Medienberichte waren Milgrim und Lischinky die einzigen Mitarbeiter der israelischen Botschaft, die an dem Event teilnahmen. Ausrichter war keine israelische Organisation, sondern eine jüdische. Auch der Veranstaltungsort − das Jewish Capital Museum − ist ein jüdischer, kein israelischer Ort.

Die geringe Chance auf einen Frieden

Gil Shohat, Chef der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, fand in einem Beitrag auf Bluesky die treffenden Worte: «Wer zu einem jüdischen Museum geht, um wegen der Zerstörung, der ethnischen Säuberung (...) durch Israel in Gaza einen Anschlag zu verüben mit dem Ziel der Befreiung Palästinas, handelt aus antisemitischen Motiven.» In den sozialen Medien meldeten sich ebenfalls zahlreiche Palästinenser, die sich für ein Kriegsende einsetzen. «Es ist abstossend zu sehen, wie das Leid der Palästinenser ausgenutzt wird, um damit den kaltblütigen Mord» an Milgrim und Lischinsky zu rechtfertigen, schrieb der christlich-palästinensische Menschenrechtsaktivist Ihab Hassan auf Instagram und erklärte:

«Das ist keine Solidarität, das ist Verrat.»

Die Menschen in Israel und Palästina leben seit Jahrzehnten mit der Gewalt und dem Terror in diesem Konflikt. Dazu gehört auch, dass häufig ausgerechnet jene Opfer davon werden, die sich für Frieden einsetzen. Die Terroristen der Hamas töteten während ihrer Überfälle auf die Kibbuzim im Grenzgebiet zu Gaza mehrere namhafte Friedensaktivisten, darunter Vivian Silver, die in den 1970ern aus Kanada nach Israel eingewandert war und für die Rechte von Frauen, jüdischen wie palästinensischen, kämpfte. Noch am 4. Oktober 2023, drei Tage vor dem brutalen Massaker, hatte Silver eine Friedensdemonstration in Jerusalem mit mehr als 1'500 Teilnehmenden organisiert.

epa11645460 A life-size cardboard image of Canadian-Israeli peace activist Vivian Silver, killed in the 2023 Hamas-led attack on Israel, is displayed at the 'October 7 Square' in Johannesbur ...
Ein Karton mit dem Bild der 2023 ermordeten Vivian Silver.Bild: keystone

Anderthalb Jahre später scheint die Hoffnung auf Frieden ferner denn je. Wie etwa eine Umfrage des Jewish People Policy Institute im März zeigte, glauben 85 Prozent der befragten jüdischen Israelis, dass es «in absehbarer Zukunft keine realistische Aussicht auf ein Friedensabkommen» gebe. Wie die Jerusalem Post schreibt, teilten mit Ausnahme des linken Lagers mittlerweile alle «politischen und religiösen Sektoren» die Ansicht, dass ein Frieden mit den Palästinensern «nicht in Reichweite» sei.

Auch objektiv sind die Aussichten schlechter denn je: In den USA versucht Donald Trump propalästinensische Aktivisten abschieben zu lassen und schwärmt öffentlich davon, den palästinensischen Gazastreifen in eine «Riviera am Mittelmeer» zu verwandeln. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte vergangene Woche, den gesamten Gazastreifen militärisch einnehmen zu wollen und die Angriffe auf das ohnehin schon vollständig zerstörte, von Hunger bedrohte Gebiet massiv auszuweiten. Zuletzt war die internationale Kritik daran lauter geworden. Die EU hatte zum Beispiel angekündigt, die Handelsabkommen mit Israel zu überprüfen.

Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu speaks during a press conference in Jerusalem, Wednesday, May 21, 2025. (Ronen Zvulun/Pool Photo via AP)
Benjamin Netanyahu
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu möchte die Angriffe auf den Gazastreifen intensivieren.Bild: keystone

Den Anschlag auf Milgrim und Lischinsky, die sich für mehr Humanität eingesetzt hatten, nutzt nun ausgerechnet Netanjahu für seine politische Agenda. «Wir sind Zeugen des schrecklichen Preises des Antisemitismus und der wilden Hetze gegen den Staat Israel», liess Netanjahu am Donnerstag über sein Büro mitteilen und bezog sich in seiner Kritik auf die internationalen Vorwürfe, Israel würde in Gaza Kinder töten. «Die Ritualmordlegenden gegen Israel kosten uns Blut und müssen unerbittlich bekämpft werden.» Ähnlich äusserte sich der israelische Aussenminister Gideon Saar. «Es gibt eine direkte Verbindung zwischen antisemitischer und antiisraelischer Aufstachelung und diesem Mord», sagte er bei einer Pressekonferenz, machte dafür die Kritik an Israel im Ausland mitverantwortlich.

«Es gibt eine direkte Verbindung zwischen antisemitischer und antiisraelischer Aufstachelung und diesem Mord»
Israels Aussenminister Gideon Saar

Viele amerikanische Juden geben Trump dagegen inzwischen eine Mitverantwortung an der zunehmend hasserfüllten Stimmung in den USA. Wie die New York Times schreibt, rechneten die Eltern von Sarah Milgrim sofort mit einem Anschlag, nachdem sie die ersten Berichte über Schüsse vor dem Jüdischen Museum in den Medien hörten. «Was mir durch den Kopf ging, ist, dass ich den Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober und auch seit der Wahl von Präsident Trump aufgetaucht ist, spüre», zitiert die Zeitung Robert Milgrim, Sarahs Vater. «Es ist einfach eine Erweiterung meiner schlimmsten Befürchtungen.»

Jetzt auf
epa12126597 Tributes are left at the scene where two people were shot and killed near the Capital Jewish Museum in Washington, DC, USA, 22 May 2025. According to a social media post by the US Homeland ...
Abschiedsbriefe für die beiden Ermordeten in Washington, D.C.Bild: keystone

Der US-Präsident rühmt sich zwar selbst seines Kampfes gegen den Antisemitismus. Während seines Wahlkampfs allerdings sagte Trump über Chuck Schumer, den ranghöchsten jüdischen Demokraten im US-Senat: «Können Sie das glauben? Er ist ein stolzes Mitglied der Hamas geworden!» Schumer hatte sich zuvor öffentlich für die Abwahl von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ausgesprochen. Trumps Aussagen seien «zutiefst gefährlich, zutiefst beunruhigend, und es ist Teil dieser allgemeinen Normalisierung des Antisemitismus», warnte damals die Geschäftsführerin des überparteilichen Jewish Council for Public Affairs, Amy Spitalnick, im Interview mit dem Nachrichtensender NBC.

Noch am Donnerstag wurde nach Angaben israelischer Behörden der Sarg von Yaron Lischinksy aus den USA nach Israel überführt. Bei der Ankunft am Freitagnachmittag am Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv fand eine Gedenkfeier unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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cereza
25.05.2025 11:24registriert Februar 2023
Danke Ihab Hassan für die klaren Worte.
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Sändle
25.05.2025 12:59registriert Februar 2022
Hass hat uns noch nie weitergebracht oder etwas ins positive verändert.
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Marco7
25.05.2025 15:15registriert April 2019
Und in Europa/Schweiz lassen unsere Politiker es zu, dass importierter Israel-/Judenhass zusammen mit linkem Judenhass auf unsere Strassen getragen wird.
Unglaublich, was immer wieder auf unseren Strassen mit unbewilligten Demonstrationen von Chaoten und Hassern geduldet werden muss.
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