Der Eklat kam nicht überraschend. Eine Woche ist es her, da lud Geert Wilders in Den Haag kurz entschlossen zur Pressekonferenz, präsentierte einen Zehn-Punkte-Plan, den er in höchstens einigen Wochen umgesetzt sehen wollte. Unter anderem sollten mehrere Zehntausend Syrerinnen und Syrer demnach, notfalls gegen ihren Willen, zurück in ihr Herkunftsland gebracht, die Grenzen für Asylsuchende «geschlossen» und militärisch gesichert werden, der Familiennachzug temporär ausser Kraft gesetzt. Wenn nicht, sei seine Partij voor de Vrijheid «weg» aus der Koalition mit den drei gemässigt-rechten Parteien VVD, NSC und BBB.
Wie hätte sich Wilders, seit knapp 20 Jahren Galionsfigur und unangefochtener Chef der PVV, noch mässigen können nach diesem polternden Auftritt, bei dem er mehrfach unterstrich, seine Geduld sei am Ende. Jedes Einlenken hätte seine Glaubwürdigkeit und das Vertrauen seiner Wählerschaft aufs Spiel gesetzt. Und wie hätten, von der anderen Seite aus betrachtet, die übrigen Parteien der nun gescheiterten Koalition auf diese Form der Erpressung eingehen können, ohne vollständigen Gesichtsverlust? Und so hat sich die Regierung, die den Niederlanden die selbsterklärte «strengste Asylpolitik Europas» bringen wollte, an diesem Vorhaben final verschluckt. Die PVV kündigte am Vormittag die Zusammenarbeit mit den anderen Regierungsparteien auf.
Zurück bleiben die Trümmer einer von Beginn an instabilen Koalition, für deren Beteiligte die Klammer der Zuwanderungsbeschränkung als übergeordnetes, sinn- und zweckstiftendes Ziel nie ausreichend war. Ihren Unmut über das Regierungsaus äusserten die Protagonistinnen und Protagonisten in drastischen Worten. Mona Keijzer von der BBB, stellvertretende Premier- und Wohnungsbauministerin, kommentierte: «Geert hat statt der Probleme der Niederlande sich selbst an die erste Stelle gesetzt», und warf Wilders vor, das Land zu «verraten».
Justizminister David van Weel (VVD) gab sich «wütend, enttäuscht und traurig» und vermutete, Wilders habe die Koalition vorsätzlich gesprengt. Eddy van Hijum, der Arbeits- und Sozialminister (NSC), war «sehr enttäuscht, weil wir eine gemeinsame Aufgabe hatten». Dass Wilders diese «einfach so aus den Händen gebe», sei «eine politische Schwalbe».
Der so Beschuldigte hingegen liess seiner Empörung darüber freien Lauf, dass die früheren Koalitionspartner der PVV keine Garantien für ihre Forderungen hatten geben wollen, und sah in der ihm eigenen Rhetorik den «Untergang der Niederlande» aufziehen. Später kündigte Wilders noch an, bei den nächsten Wahlen Premier werden zu wollen.
Dick Schoof, als parteiloser Premierminister eine Notlösung, weil der umstrittene Wilders nicht allen Koalitionsparteien als Regierungschef vermittelbar war, nannte den Rückzug der PVV am Nachmittag «unverantwortlich und unnötig», bevor er König Willem-Alexander offiziell darüber in Kenntnis setzte.
Zum Ersten bleiben Dick Schoof und seine Rumpfkoalition ohne die PVV bis zum Antritt einer neuen Regierung kommissarisch im Amt. Ein Zustand, an den sich das Land im Zuge der häufig vorzeitig gescheiterten Koalitionen der letzten Jahrzehnte durchaus gewöhnt hat. Zum Zweiten sind Neuwahlen nun sehr wahrscheinlich geworden.
Dilan Yeşilgöz, die Fraktionsvorsitzende und Chefin der rechts-liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), forderte «so schnell es geht Neuwahlen», da das Land «Deutlichkeit und ein starkes Kabinett» brauche. Oppositionsführer Frans Timmermans, der Vorsitzende der gemeinsamen Fraktion der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid (PvdA) und GroenLinks, kündigte an, eine Minderheitsregierung von VVD, NSC und BBB nicht zu unterstützen und damit in die Lücke zu springen, welche die PVV hinterlassen habe. «Die Niederländer haben nun zuerst das Wort, um einen Kurs und eine Richtung vorzugeben», so der ehemalige EU-Kommissar, der vor den letzten Wahlen 2023 mit grossen Ambitionen aus Brüssel nach Den Haag zurückgekehrt war.
Bei den Neuwahlen wird die PVV mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut auf das Thema Asyl und Migration setzen. Der Druck auf die Konkurrenz ist gross. Zumal es der ehemalige Premier Mark Rutte war, der vor zwei Jahren mit einem Wilders ganz ähnlichen Manöver sein letztes Kabinett fallen liess. Durch strengeren Familiennachzug wollte Rutte den Siegeszug der PVV stoppen – vergeblich, wie die folgenden Wahlen zeigen sollten. Yeşilgöz, Ruttes Nachfolgerin an der Parteispitze, öffnete die Partei schliesslich für eine Zusammenarbeit mit Wilders.
Zur Debatte steht damit nun auch, wie sich gerade die Parteien im gemässigt rechten Spektrum zu den Narrativen der PVV verhalten: Die Partei gibt vor, als deutliche Wahlsiegerin für «die Niederländer» zu sprechen, einen vermeintlichen Volkswillen auszuführen. Die Partei keilt dann aus – in dieser Logik nur konsequent –, sobald sich ihre Pläne aufgrund rechtsstaatlicher Normen oder internationaler Verträge nicht im Handumdrehen realisieren lassen. Das ist ein Zeichen dafür, dass auch in den Niederlanden demokratische Standards nicht so unumstösslich sind, wie sie lange schienen.
Aus progressiver Sicht wird es darum gehen, soziale Themen wie Wohnungsnot, Ungleichheit, Inflation und Armut zu besetzen und den eingeschlafenen Klimadiskurs zurück auf die politische Agenda zu bekommen. Passend dazu wollen PvdA und Grüne, die schon länger auf gemeinsamen Listen kandidieren, in diesem Sommer ihre Fusionspläne für eine vereinte linke Partei forcieren. Mit dem Wahlkampf, der irgendwann in der zweiten Jahreshälfte ansteht, stehen den Niederlanden dabei wohl richtungsweisende Debatten ins Haus.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.