Von mir aus könnte man Weihnachten abschaffen. All die Erwartungen, der Druck, das Getue. Ich finde es nur aushaltbar, weil meine Mutter kocht, als würde sie bei «Swissdinner» mitmachen. Ich mag ihr übertriebenes Engagement, auch wenn sie vor jedem Gang sagt, das Menü sei ihr diesmal nicht so gut gelungen. Stimmt absolut nie, kann man also entspannt ignorieren. Könnte man jedenfalls. Die Fähigkeit, im richtigen Moment auf Durchzug zu schalten, ist leider, ich würde mal sagen, ungleich verteilt worden in unserer Familie. Meine Schwestern und meine Mutter streiten sich gewöhnlich während des ganzen heiligen Abends, der in unserer unreligiösen Familie mässig heilig ist, ob dieses anstrengende «Fishing-For-Compliment» auf uns Kinder abgefärbt hat und inwiefern wir das nun in Therapien ausbaden müssen. Ich schweige und schaufle drei Viertel des gesamten Essens in mich rein.
Diesmal jedoch war alles anders. Statt wie gewöhnlich am Rande des Geschehens war ich Mittelpunkt der Diskussion. Anscheinend habe ich irgendwann gesagt, meine Schwester würde zu viel jammern. Ich hätte ihre Probleme während der Schwangerschaft nicht ernst genommen und so getan, als wäre alles total easy. All die unschwangeren Schwestern fühlten sich - don't ask me why - ebenfalls angegriffen und während des gesamten Hauptganges wurden mir dreistimmig die Strapazen des Kinderkriegens aufgezählt.
Ich kann mich nicht erinnern, etwas in dieser Richtung gesagt zu haben. Aber das Erinnerungsvermögen ist ebenfalls ungleich verteilt worden, ist also schon möglich. Ich verteidigte mich dennoch. Aus Prinzip. Wer Schwestern hat, wird mich verstehen.
Vor dem Dessert gab ich auf. 3 Schwestern, 1 Meinung, 0 Gewinnchance. Ausserdem besänftigte mich der Gedanke, dass bald alles anders ist. Ist Nachwuchs da, ist man zwar weg vom Thorn aber auch aus der Schusslinie.
Drei Tage später war der Winzling auf der Welt. Die Frauen der Familie freuten sich, dass das Kind kein Christkind war. Der arme Kleine hätte sonst Weihnachten und Geburtstag am gleichen Tag feiern müssen. Ich verstand ihre Euphorie nur bedingt. Ist der «arme Kleine» auch nur ein kleines bisschen wie sein Onkel, macht ihm das nämlich rein gar nichts aus. Dann verabscheut er die Momente, in denen er im Mittelpunkt steht, und ist ganz froh darum, dass an seinem Geburtstag noch etwas anderes gefeiert wird. Aber vermutlich findet der Winzling das erst gut, wenn er nicht mehr so klein ist. Aktuell ist er knapp so gross wie mein Oberarm.
Ich mag es auch, den Winzling zu halten. Und ich bin in einem Alter, in dem ich schon mehrere Babys gehalten habe, weil alle rundherum munter Nachwuchs produzieren. Fand ich immer okay, jetzt aber auch nicht sonderlich interessant. Den Winzling jedoch, das erste Wesen der neuen Generation meiner Familie, macht mich irgendwie stolz.
Und weil ich nicht mit Dating oder Sexgeschichten aufwarten kann... Sina ist weg, Laura sehe ich vielleicht morgen an Hannas Silvesterparty, hat sie jedenfalls per Instagram geschrieben, aber was das bedeutet, weiss ich nun auch wieder nicht, vermutlich nichts, meine Ex treffe ich eventuell nächste Woche, aber sie will sich nicht auf ein Datum festlegen, weil sie nur so kurz in der Schweiz ist und so viele Leute sehen muss, anstrengend, jedenfalls läuft nichts, was zugegeben scheisse ist, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern und deshalb schreibe ich euch, was ich dem Winzling schreiben würde, wenn er schon lesen könnte.
(Vielleicht hat mich das ganze Neffendings ein wenig sentimental gemacht.)
Du bist der Erste hier, hast also alles richtig gemacht! Ist auch okay, der Mittlere zu sein, wenn man nur Schwestern hat, aber der Erste ist noch besser, well done!
Hier meine Tipps fürs Leben: Lass dich nie auf den «halbe-halbe Deal» beim Essen ein. Frauen bestellen immer das langweiligere Gericht und essen dann von deiner Wahl die grössere Hälfte.
Gin Tonic schmeckt besser, Wodka Tonic gibt keinen Kater.
Drei Joints pro Abend sind vielleicht etwas viel. Auch wenn die Schule langweilig ist. Sie wird nicht besser, wenn du hardcore bekifft bist. Das heisst … doch, irgendwie schon. Aber zwei Joints reichen auch.
Entspann dich, wenn du mit 19 noch nie Sex hattest. Du kannst alles nachholen. Sex bis 25 ist sowieso Kampf pur. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Rein theoretisch kannst du es auch ganz lassen, bis du 26 bist. SICHER NICHT! Aber im Ernst, mach dir keinen Stress.
Dann aber such dir eine Frau, vorausgesetzt, dass du auf Frauen stehst, eine Frau, die du magst, aber bei der du nicht komplett durchdrehst, und lass dir mal alles in Ruhe erklären. Wird sich auszahlen, glaub mir. Wichtig: Sie darf nicht ultra hot sein. Sonst bist du abgelenkt und passt nicht auf.
Grundsätzlich gilt bei Frauen: Langsamer ist schneller. Und: Weniger (Druck) ist mehr.
Wenn du jemanden auf Tinder anschreibst, schreibe nicht: «Hey!» Funktioniert nie. (Ich hoffe sehr für dich, dass Tinder nicht mehr existiert, wenn du so alt bist, dass du Tinder runterladen würdest.)
Wenn du sonst noch Fragen hast, frag mich. Wirst du eh machen, ich bin dein einziger Onkel. Aber deine Tanten sind auch okay. Ausser an Weihnachten, dann nerven sie.
Happy life, Winzling! Welcome to the family!
Und euch: Happy New Year! Wir lesen uns 2023!
So long, Ben