Ich bin genervt. Von Sandros Rastlosigkeit, von meinem Vermieter, vom Wohnungsmarkt, vom Wetter, von Cleo und von meiner Cellulitis. Also eigentlich macht mich die ganze Welt hässig. Sogar die Teenies, die an der Bushaltestelle Deutsch-Rap hören und auf den Boden spucken. Und dann bin ich genervt davon, dass mich das nervt.
Ich brauch eine Pause.
Vogelgezwitscher statt Capital Bra. Absolute Stille statt Sandros 1000 Ideen pro Sekunde. Me-Time. Me, myself and I. Also buche ich mir ein winzig kleines, sehr herziges Häuschen mitten im Nirgendwo in einem Schweizer Ort, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt.
Das Häuschen ist zweistöckig. 50 Quadratmeter. Mit Gärtchen. Hollywoodschaukel, Wiesen rundherum und Wald. Ein Märchen für mich und mich. Ich buche eine Nacht. Am Samstagmorgen fahre ich los. Zuerst Zug, dann Postauto, dann 1,5 Kilometer den Berg hoch. Zu Fuss. So schön. Ich freu mich auf mein Landmädchen-Wochenende. Und reise schon total entspannt ohne Make-up in Outdoor-Schuhen.
Sandro lacht. Er ist sich sicher, dass mir nach zwei Stunden langweilig wird. Dass ich ein Café vermisse. Keinen Bock habe, Fuchs und Hasen «Gute Nacht» zu sagen.
Hab ich doch. Genau das. Häsli streicheln. Füchse beobachten. Kräutertee trinken. Kluge Bücher lesen.
Meine Vorstellung ist 10/10. Die Realität, die sieht – ich gebe es krass ungern zu – anders aus.
Wie genau, zeigt folgendes Protokoll:
Samstag, 14.38 Uhr: Ich komme nassgeschwitzt beim Häuschen an. Ich hab bereits zwei Blattern an den Füssen, einen knallroten Kopf und Wut im Bauch.
14.39 Uhr: Der Schlüssel ist nicht am vereinbarten Ort. Weit und breit ist da aber niemand. Keine Nachbarn, kein Dorfladen, rein gar nichts.
14.44 Uhr: Ich setz mich ins Gras und versuche, telefonisch die Anbieter zu erreichen.
14.46 Uhr: Niemand erreichbar. Vermeintliche Wiese entpuppt sich als Brennnesseln. Fick dich, Mother Nature.
14.55 Uhr: Schlüssel doch am vereinbarten Ort. Hab nicht genau geschaut.
15.15 Uhr: Bin versöhnt. Häuschen schampar herzig. Alles winzig. Tiny House, wie eine Instagram-Werbung. Bin sehr zen mit Natur und mir.
15.30 Uhr: Mir ist langweilig.
15.33 Uhr: Masturbieren, um anzukommen. Super Plan. Ohne Internet, also ohne Pornos, mega anstrengend.
15.36 Uhr: Ich breche ab.
15.40 Uhr: Ich könnte lesen. Hab aber null Lust.
15.42 Uhr: Was ist das für ein Geräusch?????
15.44 Uhr: Das Geräusch wiederholt sich. Mörder? Bestien?
15.45 Uhr: Tür ist abgeschlossen. Wobei die Tür ein Witz ist. Einmal mit dem Fuss reinkicken und sie ist offen. Ich bin grad die leichteste Beute.
15.48 Uhr: Scheisse, ist das hier mein Todesurteil?
16.00 Uhr: Ich muss pinkeln.
16.01 Uhr: Ich mach den WC-Deckel auf und bin mir sicher, dass hier gleich Ratten hochkommen. Und Schlangen. Ganz giftige. Wahrscheinlich sind sie schon überall im Häuschen in irgendwelchen Rohren bei der Küche.
16.15 Uhr: Was mich wohl zuerst umbringt? Der Mensch oder das Tier?
16.16 Uhr: Will Sandro anrufen. Der wird lachend «Hab ich's nicht gesagt, Ems?» sagen. Das nervt mich.
16.30 Uhr: Evtl. Papa Bruno anrufen. Nein, come on. Ich bin eine gestandene Frau Ü40.
16.40 Uhr: NOCH MEHR GERÄUSCHE. EIN RASCHELN. HAT MEINE LETZTE SEKUNDE GESCHLAGEN?
16:45 Uhr: Was für eine Scheiss-Idee, hierher zu kommen. Die Natur ist Feind.
16.50 Uhr: Ich will Netflix. Internet. Rumjohlende besoffene Teens vor dem Fenster.
16.52 Uhr: Und Restaurants und Busse und Velos und Trams. Von mir aus sogar Capital Bra.
17.00 Uhr: Nie im Leben schlafe ich eine Nacht hier. Bin doch nicht lebensmüde.
17:15 Uhr: Zagg. Keine ÖV-Verbindungen mehr zurück nach Hause.
17.18 Uhr: Ich bin mein eigenes Blair Witch Project.
17.30 Uhr: Ich weine.
17.31 Uhr: Ich rufe Sandro an. Er lacht nicht. Er sagt, er steige grad ins Auto und komme.
17.32 Uhr: Was hab ich für einen grossartigen Freund.
17.33 Uhr: Whatsapp von Sandro. «Ich sag jetzt nicht, ich hab's gesagt.»
17.34 Uhr: Er nervt.
17.35 Uhr: Ich leg mich aufs Bett. Ich schliess die Augen. Das Herz rast. Die Geräusche sind überall.
20.12 Uhr: Es klopft. Ich schrecke auf. Voilà, die Mörder. Das war mein letztes Schläfchen. Wie konnte ich bei dieser Todesgefahr schlafen?
20.13 Uhr: Es klopft weiter. «Emi», ruft eine Stimme. Sandros Stimme. Es ist die beste Stimme der Welt. Ich war noch nie so froh, sie zu hören.
20.15 Uhr: Eventuell erwürge ich ihn grad vor Dankbarkeit. Ich will sofort weg hier. Er fände einen Blowjob vor Abfahrt okay. Ich nicht.
20.18 Uhr: Wir sind weg.
21.12 Uhr: Wir checken spontan auf dem Heimweg in ein geiles Hotel ein. Wir nehmen die Suite. WLAN, Netflix und Sex-Regenwald-Dusche inklusive.
21.30 Uhr: Wir bestellen Zimmerservice. Bier. Pommes. Chicken Wings. Tiramisù.
22.23 Uhr: Wir duschen. Blowjob inklusive.
22.45 Uhr: Wir haben Sex. Sehr viel Sex.
23.59 Uhr: Mitternacht: Ich lebe. Und bin vielleicht das glücklichste Nicht-Landmädchen des Landes. Ich strahle Sandro an. Der macht grad seinen Mund auf und will was sagen. Ich sag, er soll nichts sagen. Er sagt nichts. Wir lachen. Und so endet mein Blair Witch Project – ohne Mord und ohne Schlangenbiss, dafür mit einem kitschigen Happy End.
Falls Sie meine Geschichte für eine «Grey’s Anatomy»-Folge adaptieren wollen, dürfen Sie mich jetzt anrufen, liebe Frau Shonda Rhimes. 0041 79 Sie wissen schon …
Der Typ ist wahrlich nicht zu beneiden. Mit seinem 40jährigen Baby..