«Kind, warum so rastlos?», fragt mich diese Ü60-Frau. Wir sehen uns zum ersten Mal. «Diese innere Unruhe, die dich plagt, weisst du woher sie kommt?»
Ich weiss es nicht. Mehr noch: Ich finde gar nicht, dass meine Seele gestresst ist. Immerhin war ich vor 2 und 5 Tagen im Yoga. Ausserdem habe ich, wie es sich für eine bald Mittdressigerin gehört, ein klassisches Internetradio gefunden, das ich alle paar Schaltjahre für zehn Minuten höre.
Die Frau, die hinter den Fragen steht, heisst Irma. Irma ist die Mutter meines schwulen Kollegen, bei dem wir gerade eine Einweihungsparty feiern. Irma. Mir dämmert's. Von Irma habe ich viel gehört. Sie sei die beste Kartenlegerin weit und breit. Pendeln kann sie auch, Handlesen, in die Seele blicken. Irma ist in allen Bereichen ein wandelndes Orakel.
stellt Irma fest. Mit geschlossenen Augen atmet sie tief ein und aus. Wir sitzen zu zweit auf dem Mini-Balkönli im dritten Stock der Altbauwohnung in Wipkingen.
Sie greift ungefragt nach meiner Hand. Ich ziehe sie zurück. Vor Wahrsagerei habe ich Angst. Als Hypochonder gehe ich stets davon aus, dass man mir sagt, dass ich morgen unters Auto komme. Oder dass mir in Bälde ein Flugzeug auf den Kopf fällt. Oder dass ich in 5 Jahren einen Damenschnauz bekomme.
Auch in Sachen Liebe weiss ich nicht, ob ich wissen will, was die Zukunft bringt. Was, wenn sie nur Loser, Narzissten und Psychopathen für mich bereit hält und ich ihn zehn Jahren als Katzen-Hasserin mit 15 Katzen irgendwo in einem Vorort ende, wo man mich tagelang nicht findet, sollte ich während des Fensterputzens dumm stürzen und meinen Kopf anschlagen?
Ich bräuchte keine Angst zu haben, beruhigt mich Irma. Ich würde eine schöne Aura haben, eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Gegen die Rastlosigkeit könne man etwas tun. Ob sie ihre Tarot-Karten holen soll. Die würden eine Momentaufnahme zeigen. Ganz harmlos. Wir können ja mal schauen, wie es in Sachen Job aussieht.
Der Job. Die einzig stabile Konstante in meinem Leben. Irma hat mich. Drei Minuten später liegen also die Karten vor mir. Irma dreht eine um die andere um. Jobtechnisch sei ich angekommen. Alles super so. Weitermachen. Bloss:
Nicht unwahr.
Bei der nächsten Karte, die sie umdreht, hält sie inne. «Gell, einen Freund hast du nicht!?» – «Nein», sage ich. Sie: «Da ist aber einer, der schon sehr lange um dich schwirrt. Es ist ein Propeller-Typ, der nicht weiss, was er will. Sagt dir das was?».
Ich weiss genau, auf wen sie anspielt.
«Ei ei ei, Kindchen, ein schwieriger Charakter. Übt aber eine grosse Anziehung auf dich aus. Und du auf ihn. Ich weiss aber nicht, ob das dieses Leben noch was wird.»
Nun, wenn er nicht weiss, was er will, ich nicht weiss, ob ich ihn will und Irma nicht weiss, ob das was wird, wer um alles in der Welt soll es dann wissen!?
Ich stütze meinen Kopf auf meine Hände. Wenn ich es genauer wissen will, habe sie noch andere Karten hier. Mit denen könne sie weiter in die Zukunft blicken.
Ich exe zwei Shötli.
Jetzt bin ich bereit. Der Propeller-Typ ist auch hier klar zu erkennen, sagt Irma. Sie zieht an ihrer Slim-Zigarette: «Eigentlich ist das eine hochromantische Geschichte.» Müsste man mal genauer anschauen.
Dann: «Oh, ich sehe einen zweiten Mann. Weit weg. Aber er ist auf der Zielgeraden zu dir. Ich weiss aber nicht genau, ob er durchdringen kann. Falls schon, kommt's zur Blitzhochzeit.»
Hier jubelt mein Herz. So stelle ich mir das vor: Treffen, Tätsch-Bämm-Bumm, verlieben, fortpflanzen, heiraten. Passt sowieso viel besser zu mir als der konventionelle Weg.
Ich will schon fast ein Dauerabo bei Irma lösen, als sie kurz innehält, noch einmal einen starren Blick auf die Karten wirft und folgendes sagt:
Wenn aber nicht, dann, ist sich Irma sicher, werden er und ich für immer und ewig unfassbar glücklich werden.
Oder einfach bis er mich für eine viel Jüngere verlässt. Oder ich unsere Ersparnisse in einer Casino-Nacht verspielt habe. An der Seite seines besten Freundes. Mit dem ich dann durchbrenne. Aber vielleicht habe ich – mal wieder – einfach zu viele Aerosmith-Videos in meinem Leben geguckt.
So oder so kann ich nach 30 Minuten mit Irma sagen, dass meine Zukunft schitter aussieht.
Also zurück in die Gegenwart. Und damit zu den Aerosmith-Videos. Dieses hier ist mein liebstes. Um die Zukunft und die Finanzen kümmern wir uns ein anderes Mal. Kommt Zukunft, kommt Rat. Bis dahin fokussiere ich mich auf meine stark sexuelle Aura.
Adieu,
Dann schick sie per Mail an Emma: emma.amour@watson.ch