Liebe Lieblingstante
Weisst du, was eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist? Es war ein Wunsch, ein heimlicher. Ich muss etwa im Kindergarten-Alter gewesen sein, als ich das erste Mal dachte, dass ich es cooler fände, wenn statt deiner Schwester DU meine Mama wärst.
Irgendwann habe ich meiner Mutter gesagt, dass du sehr viel cooler bist. Sie hat gelacht und so was wie «Ich weiss» gesagt. Bei jedem Streit, arme Mama, habe ich dann immer sehr betont, wie viel lieber ich bei dir und Onkel Gustav statt bei meinen Eltern leben will.
Du hattest dieses einmalige Lachen. Wenn du gelacht hast, hat dein ganzes Gesicht gelacht. Das hat nicht nur lustig ausgesehen, das hat auch lustig geklungen. Hast du gelacht, haben alle gelacht. Und du hast viel gelacht.
Mama sagt, dass ich sie an dich erinnere. Was eines der schönsten Komplimente ist, das sie mir machen kann.
Dabei bin ich manchmal echt hässig auf dich. Weil du nicht mehr bist. Weil du gegangen bist, als ich dich so gebraucht habe. Es gab eine Pubertät vor deinem Tod und eine danach. Die vorher war ein Zuckerschlecken, die danach ein Höllenritt.
Als meine Brüste so weh taten, dass ich nicht mehr auf dem Bauch liegen konnte, warst du da und hast mit mir meinen ersten BH gekauft. Als Silvio oder Silvan, oder wie der Tubel auch immer hiess, mir den ersten richtigen Liebeskummer bescherte, hast du meine Tränen getrocknet. Als ich im Dorflädeli das erste Mal erwischt wurde, als ich eine Wodka-Flasche klaute, hast du dich schützend vor mich gestellt.
Und als ich hochillegal mit gefälschter ID meine Zunge piercen liess, bist du mit mir nach Hause und hast mein Händli gehalten, während Mama tobte.
Es sind viele Jahre vergangen, seit dieser elende Lastwagen dein winziges Auto gerammt hat. Du hast dich nach dem Unfall gut erholt, die Ärzte waren zuversichtlich, dass du wieder ganz gesund wirst.
Das Schicksal hatte aber einen anderen Plan, als dein Herz in einer Nacht aufhörte zu schlagen.
Du fehlst mir heute kein bisschen weniger als damals. Ich habe bloss gelernt, mit dem Verlust zu leben. Manchmal aber denke ich, du bist irgendwie da. Das ist enorm schön.
Erinnerst du dich noch an unsere Gespräche auf der Veranda deines Hauses? Wir tranken Schokolade und plauderten oft bis spät am Abend. Du hast mir jeweils gesagt, dass du Erwachsene langweilig findest und lieber mit mir bist.
Du hast mir immer ans Herz gelegt, auf mein Herz zu hören. Ich soll dabei den Verstand nicht komplett ausknipsen, im Zweifelsfall aber immer das Herz gewinnen lassen. Du hast auch immer gesagt, dass ich alles werden kann, was ich will. Auch Superheldin.
Ich will dich nicht enttäuschen, liebe Marta, aber ich bin keine Superheldin geworden.
Aber ich habe auf mein Herz gehört. Ich bin mit einem Mann zusammen, der auf dem Papier wohl alles andere als der perfekte Schwiegersohn ist. Und weisst du was? Genau deswegen ist er perfekt. Perfekt für mich. Und du würdest ihn auch lieben. Mama ist etwas hin- und hergerissen. Bruno ist Fan. Wundert uns nicht, richtig?
Ich werde übrigens nicht heiraten. Nicht besagten Mann, er heisst Sandro, und auch keinen anderen. Voraussichtlich. Sag niemals nie, hast du mir beigebracht. Kinder habe ich keine. Die Details dazu erzähle ich dir mal face to Grabstein, wenn ich dich besuche.
Heute schreibe ich dir einfach, um dir zu sagen, dass du mir fehlst. Dass es mich traurig macht, dass du Sandro nie kennenlernen wirst. Dass ich es doof finde, dass ich nicht mehr mit dir über deine manchmal sehr nervige Schwester bitchen kann.
Und dann will ich dir noch sagen, dass es Gustav, deinem Mann, super geht. Seine Beatrice kann dir das Wasser zwar nicht annähernd reichen, daraus macht selbst er kein Geheimnis, aber sie ist cool. Und sie hat super auf deine Kinder geschaut, die ja beide noch jünger als ich waren, als du gehen musstest.
Weisst du was, liebe Marta? Heutzutage gibt's WhatsApp. Das ist eine Chat-App. Hast du sicher irgendwie mitgekriegt. Da kann man Gruppen machen. Ich habe eine mit deinen Töchtern.
Sie schicken mir regelmässig Bilder deiner bezaubernden Enkel. Sie lästern über Mütter, Väter, Windeln, Elternabende und Lehrpersonen. Sie lassen deine Enkel völlig frei aufwachsen. Sie sind beide die liebevollsten Mamis, die ich kenne.
Deine Schwiegersöhne sind auch super. Einer trinkt eventuell manchmal etwas zu viel. Du würdest ihn lieben. Sandro und er lieben sich auch. Pardon fürs Abschweifen. Deine Töchter sind aber so viel mehr als Muttis. Sie sind selbstbewusste, selbstironische, kluge, reflektierte und wahnsinnig lustige Frauen.
Wir wissen alle, von wem sie all das haben. Von Gustav haben sie dafür gelernt, dass eine dritte Säule wirklich wichtig ist. Er versucht's mir auch ständig zu verklickern.
Neulich übrigens fragt mich Sandro aus dem Nichts, ob ich Schiss vor dem Sterben habe. Ich habe keinen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sterben etwas Friedliches ist. In meinem Fall ist es vielleicht sogar noch etwas mehr: Ich bin sicher, dass du da drüben irgendwo eine Veranda gefunden hast, die auf uns wartet. Wenn ich's nicht vergesse, nehme ich die Schokolade mit.
PS: Mein Zungenpiercing ist schon lange raus. Eventuell habe ich jetzt ein Triangle-Piercing hinter der Klitoris.
PS 2: Ich habe Mama nie verraten, dass ich vor dem Erwischtwerden mindestens 10 Wodka-Flaschen erfolgreich gestohlen habe.
PS 3: Ich werde ihr auch nie sagen, dass ich heute noch ein kleines bisschen stolz drauf bin.
Hab's wunderbar da oben, liebe Tante Marta. Du fehlst mir schrecklich.
Deine Emma
Danke Emma