Bruno Ganz sagte einmal: «Heimat ist der Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe.» Heimat sei «an einem Stadtrand von Zürich». In Seebach. Der Vater arbeitete in der Maag, die damals keine Eventhalle, sondern eine Zahnradfabrik war, die Mutter war aus Italien «zu Fuss über die Alpen» in die Schweiz eingewandert, wo sie nach einer Arbeit als Hausangestellte suchte. Ein Theater hätten die beiden erst von innen gesehen, als Sohn Bruno selbst auf der Bühne stand.
Und dann ist er auch schon weg. Geht direkt nach der Rekrutenschule nach Deutschland. Ekelt sich vor dem Militärdienst – «Ich habe diese Armee gehasst wie sonst nichts» – und vor den Bergen, in denen er während der RS herumkraxeln muss. Später bezeichnet er dies selbst als «sehr pubertäre Attitüde», aber damals ist die «Heidi»-Natur nicht seine.
Er geht zunächst nach Göttingen, wo er bis 1964 Theater spielt, sehr viel Bier trinkt und richtig deutsch lernt. 1965 heiratet er seine Freundin Sabine und die beiden bekommen einen Sohn, der mit sechs Jahren tragisch erblindet.
Anfang der 70er-Jahre hat er eine heimliche Affäre mit Romy Schneider. Sie dauert ein wildes, wehes Jahr, spielt sich zwischen Berlin, Paris und Hamburg ab. Wie er ist auch sie verheiratet. Wie sie trinkt auch er viel zu viel.
1976 verprügelt er den amerikanischen Filmstar Dennis Hopper beim gemeinsamen Dreh zum Wim-Wenders-Film «Der amerikanische Freund». Aus Eifersucht auf dessen Prominenz.
Vor allem aber spielt er Theater. Gehört zur Gründungscrew der aufregenden neuen Schaubühne in Berlin, die eine ganze Generation von Regie-Giganten zum Glänzen bringt – Peter Stein, Peter Zadek, den Schweizer Luc Bondy.
1987 katapultiert ein nächster Film mit Wim Wenders Bruno Ganz in ganz neue Kinowunderhöhen: «Der Himmel über Berlin», ein Fantasyfilm über zwei Engel, von denen einer (Ganz) aus Liebe zu einer Zirkusprinzessin zum Menschen wird, verzaubert alle Fans des Nachkriegs- und Vorwende-Berlins. Bruno Ganz, der Engel mit Pferdeschwanz, wird zum düsteren Brüter unter den Sexsymbolen.
Damals ist er bereits 46 Jahre alt. Als «Wings of Desire» wird der Film ein internationaler Erfolg. Er gerät in den engeren Zirkel derer, die als Partner von Julia Roberts in «Pretty Woman» in Frage kommen könnten. Richard Gere gewinnt. Aber Ganz ist von Hollywood angefixt, er kann sich die Hauptrolle in Spielbergs «Schindler's List» vorstellen. Daraus wird nichts: «Ich hatte ihm ein furchtbar schlechtes Video geschickt», stellt er später selbstkritisch fest.
Er wird dennoch vieles. Changiert zwischen warmherzig-gütig verlebten Herren und eiskalten Herrenmenschen. Im Jahr 2000 ist er Fernando, ein venezianischer Kellner, der in «Pane e Tulipani» eine verblühte Hausfrau wieder zu Leben und Liebe erweckt. 2000 wird er aber auch zum Faust in Peter Steins 20-stündigem «Faust»-Projekt an der Expo in Hannover. Die Kosten dafür: 30 Millionen Mark. Steins Mephisto ist der andere in Deutschland grandios arrivierte Schweizer Robert Hunger-Bühler.
Und er wird Hitler. Einen deutscheren Schweizer als ihn gab es nie. «Der Untergang» von Oliver Hirschbiegel wird 2004 zu seinem Triumph und Vermächtnis. Sein sich im Führerbunker dem Tod entgegen schnarrender Hitler ist ein Spektakel. Bruno Ganz hat Angst, dass die Neonazis an dem Film allzu grossen Gefallen finden könnten. Dass sie ihn vereinnahmen könnten. «Und sie haben nichts gemacht. Weil es damit nichts zu machen gab. Das hat mich sehr stolz gemacht», sagt er in einem Gespräch in der Schweizer Botschaft in Berlin.
Er habe für diesen Hitler in «eine tiefere Schicht» vordringen müssen als für andere Rollen, und es sei sein Vorteil gewesen, dass er Schweizer sei, er habe sich der Figur unbefangener näher können als deutsche Kollegen, deren Familien vielleicht selbst eine Nazivergangenheit gehabt hätten. Wie für jede seiner Rollen las und schaute er alles, was ihm zur Verfügung stand. Bloss mit der spezifischen Situtation von Hitler im Bunker sei er allein gewesen, erzählte der der «Süddeutschen Zeitung». Seiner Vorstellungskraft ausgesetzt. Schliesslich gab es davon keine Aufnahmen.
Gut 120 Film- und Fernsehrollen hat er gespielt. Keine hat ihm so viel abverlangt wie Hitler. Danach wandte er sich erfreulich oft dem Helvetischen zu. Spielte den Grossvater im Wunderkind-Tearjerker «Vitus», den Bundesrat in der Thomas-Hürlimann-Verfilmung «Der grosse Kater» und schliesslich den Alpöhi in «Heidi».
Der Alpöhi ist als Rolle keine grosse Herausforderung, die Textmenge klein, Ganz versteckt sich vorwiegend hinter seinem Bart, den er sich drei Monate lang hat wachsen lassen. Aber das «Heidi» ist für ihn eine Herzensangelegenheit, und selten hat einer so schön wie er darüber gesprochen.
Das Berührende sei, so sagt er in der «Welt», «dass da ein nicht so begünstigtes Wesen, ein Kind, das aus einem Heim kommt, eine Waise, die herumgestossen wurde, nun endlich zu einem Blutsverwandten gebracht wird, der es erst auch noch auf sehr harte Art abweist. Dass dieses Kind dann allmählich durch die Landschaft, durch die Freundschaft mit dem Hirten, der auch ein schräger Vogel ist, durch die Liebe zu den Ziegen, durch dieses Alleinsein, dieses Nichtbeaufsichtigtsein da draussen mit den Tieren, verantwortlich für sich selber, endlich einen Platz entdeckt zum Atmen und zum Leben und dann auch noch das Herz des Grossvaters zum Schmelzen bringt. Die Findung einer Existenz ist das. Eine ganz grossartige Geschichte.»
So redet einer, der mit den Bergen endlich Frieden geschlossen hat.
Seine grösseren Heimaten waren die Schweiz, Deutschland und Italien, wo er in Venedig einen Zweitwohnsitz hatte. Waren aber auch all die andern Länder, in denen er immer wieder drehte, etwa Amerika. Stand ihm irgendwo eine längere Zeit an einem Theater, auf einem Dreh bevor, so nahm er seine eigenen Kochtöpfe mit, damit er sich selbst verpflegen konnte. Seit seinem 60. Geburtstag trank er keinen Tropfen Alkohol mehr. Mit seinem Sohn hatte er bis zuletzt guten Kontakt, seine neue Partnerin war die Theaterfotografin Ruth Walz, die er bereits seit Schaubühnen-Tagen kannte.
Seine kleine Herzensheimat war und blieb jedoch der Stadtrand von Zürich, auch, als er sich entschied, seinen Zürcher Haushalt auf die Halbinsel Au am See unten zu verlegen. Weil er als Kind mit seinen Eltern so unvergessliche Ausflüge auf die Au gemacht hatte. Er, der Engel, der sich dazu entschieden hatte, ein paar Jahrzehnte lang unter uns und für uns zu spielen. Merci.